Süddeutsche Zeitung

Europawahl:Zwei Männer mit Brüsseler Perspektive

Weber und Timmermans sind sich auch im zweiten TV-Duell in vielem einig. Das zeigt, dass Europapolitik nur im Konsens gelingen kann. Dennoch gilt: Die Bürger haben bei der Wahl klare Alternativen.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Drei Stunden lang hatten die Wahlberechtigten in Deutschland in den vergangenen eineinhalb Wochen Zeit, die beiden aussichtsreichsten Spitzenkandidaten für die Europawahl kennenzulernen. Drei Stunden, das entspricht zwei Mal 90 Minuten - oder in der Fußball-Analogie einem Hin- und Rückspiel in der K.-o.-Runde eines Pokalwettbewerbs.

Ihre Leidenschaft für Europa haben Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) und Frans Timmermans, der Sozialdemokrat aus den Niederlanden, eindeutig bewiesen - zunächst in der Wahlarena der ARD und nun am Donnerstagabend im TV-Duell von ZDF und ORF. Wer beide Debatten gesehen hat, der hörte in der zweiten Runde viele bekannte Anekdoten, Vergleiche und Zuspitzungen. Natürlich ist es normal, dass Politiker auf bestimmte Beispiele zurückgreifen, die ihre Argumente besonders gut illustrieren, doch Weber und Timmermans wissen offensichtlich genau, dass sie bei sehr vielen Wählern noch unbekannt sind (nur 26 Prozent hatten im April den Namen Weber schon mal gehört) und setzen daher auf bekannte Phrasen.

Also illustriert der frühere Außenminister der Niederlande seine Forderung nach einer EU-weiten "minimalen Körperschaftsteuer" von 18 Prozent mit einem Beispiel aus Österreich: Dort hat der SPÖ-Spitzenkandidat Andreas Schieder herausgefunden, dass die Kaffeekette Starbucks in Österreich 18 Millionen Euro Umsatz mache und ganz legal nur 800 Euro Steuern zahle. Das sei niemandem zu vermitteln, findet der Vizepräsident der EU-Kommission - vor allem nicht dem Besitzer einer Eckkneipe, der 8000 Euro Steuern abführen müsse.

Manfred Weber, der Fraktionschef der EVP im Europaparlament, will generell ebenfalls für mehr Gerechtigkeit sorgen, doch dabei eher den Nationalstaaten vertrauen. Wie Timmermans erklärt der CSU-Vize die Klimapolitik zur "Chefsache", doch anders als der Sozialdemokrat möchte er im Kampf gegen die Erderwärmung keine CO₂-Steuer einführen, weil diese von den Ärmsten bezahlt werden müsse. Er setze auf Erfindungsgeist: "Ich glaube an Innovation." Timmermans fordert vehement neben einer Kerosinsteuer auch eine CO₂-Steuer: "Dann zahlen diejenigen, die verschmutzen."

Dies ist nur eines von mehreren Beispielen, bei denen kurz vor der Europawahl, die europaweit vom 23. Mai an und in Deutschland am 26. stattfindet, klare Unterschiede zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten deutlich wurden. Ob es um die Einführung einer Klarnamenpflicht im Internet (Weber dafür, Timmermans dagegen) oder die Notwendigkeit eines europaweiten Mindestlohns geht (Weber dagegen, Timmermans für 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens) - je nach Priorität der Wähler gibt es klare Alternativen. Am Tag zuvor bei der EBU-Debatte aus dem Europäischen Parlament war das noch deutlicher geworden, als die Spitzenkandidaten von sechs Parteienfamilien auf der Bühne standen - doch leider schoben die deutschen TV-Verantwortlichen diese Sendung in die Spartenkanäle ab.

Dabei illustrierten die beiden Debatten genau, wie sehr die Arbeit in Brüssel und Straßburg, wo Abgeordnete und Beamte aus 28 EU-Mitgliedstaaten zusammenkommen, die Perspektive verändert und weitet. Es liegt eben nicht nur am Naturell von Manfred Weber, dass der 46-Jährige im Vergleich zu anderen CSU-Politikern weniger krawallig auftritt - er weiß aus dem Alltag, dass auf der EU-Ebene Fortschritte nur im Konsens möglich sind (und dass der linke Grieche Alexis Tsipras ein ideales Feindbild ist, weiß er natürlich auch). Vor diesem Hintergrund wundert es also weniger, dass sich die beiden Duellanten im Berliner TV-Studio duzen ("das machen wir schon lange, wir arbeiten ja zusammen") und in den Grundzügen ähnlich ticken. Fast entschuldigend sagt Timmermans an einer Stelle: "Hier muss ich leider wieder sagen, dass wir uns einig sind."

Aufschlussreich, was das Auftreten der Bewerber angeht

Im Vergleich zur ARD-Wahlarena dürften die Zuschauer an diesem Abend mehr über die Männer lernen, die Jean-Claude Juncker als Chef der EU-Kommission nachfolgen und das Spitzenkandidaten-Prinzip gegen Gegner wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verteidigen wollen, was am klassischen Format liegt. Dieses Mal gibt es keine Fragen von Bürgern, dies übernehmen ZDF-Chefredakteur Peter Frey und Ingrid Thurnher vom ORF - und Frey hält das Versprechen ein, Konfrontation zuzulassen (die ARD-Moderatoren hatten viel zu früh unterbrochen).

So hält Weber Timmermans vor, dass er nicht für die EU-Kommission spreche (als dieser den EU-Türkei-Deal in der Flüchtlingsfrage verteidigt), sondern für die Sozialdemokraten, die diese Abmachung ständig kritisieren würden: "Die Entschiedenheit, die du ausstrahlst, gibt es in deiner Partei nicht." Im Gegenzug rückt der Niederländer manch flammendes Plädoyer Webers für mehr Klimaschutz mit dem Hinweis zurecht, dass die EVP im Straßburger Parlament in dieser Causa eindeutig zu den Bremsern gehört - und manche Initiativen, etwa für schärfere CO₂-Grenzwerte für Autos, zu verhindern suchte, die Weber nun lobend hervorhebt.

Dass sich die Moderatoren wiederholt an Fragen festbeißen, bei denen vor allem die Mitgliedstaaten aktiv werden müssen und nicht der EU-Kommissionspräsident - etwa bei der auf 2027 verschobenen Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex um 10 000 Beamte oder einer effektiveren und zugleich menschlicheren Flüchtlingspolitik - lässt sich wohl kaum vermeiden. Dennoch werden viele wichtige EU-Themen behandelt, etwa die umstrittene Copyright-Richtlinie, gegen die vor allem viele junge Deutsche protestiert haben.

Weber verteidigt die Urheberrechtsreform noch einmal ausdrücklich: Die Furcht der Gegner vor Zensur sei unbegründet. Sollte sie sich tatsächlich bewahrheiten ("was ich nicht glaube"), werde er als Chef der EU-Kommission die Richtlinie wieder ändern, verspricht der EVP-Mann. Timmermans unterstützt ebenfalls das Prinzip, wonach Urheber besser entlohnt werden müssten, doch er zeigt sich offen, was die Verfahren angehe: "Ich lasse mich überzeugen, dass Upload-Filter vielleicht gar nicht nötig sind."

In der europäischen Verteidigungspolitik sprechen sich beide grundsätzlich für eine europäische Armee aus. Weber sagt, für ihn sei das auch ein Friedensprojekt und gibt sich deutlich forscher als Timmermans: "Ich will sie." Wer eine gemeinsame Armee habe, werde keinen Krieg gegeneinander führen, so Weber. Der Niederländer geht hingegen davon aus, dass bis zur Einführung einer europäischen Armee "noch sehr viel Zeit" vergehen werde. Bei diesem Thema gehe es um Leben und Tod. Es müsse aber eine europäische Industriepolitik für Rüstung geben. An dieser Stelle könne die EU-Kommission mitwirken.

Aufschlussreich sind diese 180 Minuten, was das Auftreten der Bewerber angeht. Timmermans ist als Wahlkämpfer erfahrener, strahlt mehr Leidenschaft aus und beherrscht so gut Deutsch, dass er problemlos mithalten kann. Er wirkt auch mutiger, was sich etwa bei den "Ja/Nein"-Fragen zeigt. Beide sprechen sich für ein Ende von Kurzstreckenflügen wie zum Beispiel von München nach Nürnberg oder von Salzburg nach Wien aus, Timmermans befürwortet sogar ein gesetzliches Verbot, sofern gute Bahnverbindungen als Alternative zur Verfügung stünden. Weber äußert sich vorsichtiger: Er wolle die Bahn so attraktiv machen, dass es solche Kurzstreckenflüge nicht mehr geben müsse - ohne Verbot.

Zwei Mal geht Weber, der etwa in der Frage der Gas-Pipeline Nord Stream 2 eine andere Position vertritt als Bundeskanzlerin Angela Merkel, auf Distanz zu Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, der ihn im Wahlkampf sehr oft unterstützt. Der EVP-Spitzenkandidat kritisiert die österreichische Lösung, das Kindergeld für im Ausland lebende Söhne und Töchter dem dortigen Lebensstandard anzupassen.

Zum umstrittenen österreichischen Kopftuchverbot für Grundschulkinder sagt er: "Das Grundprinzip ist die Freiheit." Der Umgang mit dem politischen Islam sei aber eine schwierige Grenzfrage. Timmermans äußert sich sehr viel klarer. "Welches Problem wird damit gelöst, um Gottes Willen?" fragt er. Das Kopftuchverbot sei reine Symbolpolitik, mit der Kurz seinen Koalitionspartner von der FPÖ zufriedenstellen wolle. Die jüdische Kippa oder das christliche Kreuz würden Kindern auch nicht verboten und es werde nicht unterstellt, dass Eltern ihre Kinder damit instrumentalisieren wollten.

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