Geheimpapier:Ministerium erwägt enorme Sicherheits-Hürde für AKW

In Berlin kursiert ein Papier des Umweltministeriums. Die Sicherheitsstandards für AKWs sollen so stark erhöht werden, dass kein Meiler weiter betrieben werden könnte. Minister Röttgen spricht von einer "Materialsammlung".

Im Bundesumweltministerium werden drastische Schritte erwogen, um die Sicherheit vor Atomunfällen in Deutschland zu garantieren. Das ARD-Magazin Kontraste zitiert aus einem bislang geheimen Papier, in dem von erhöhten Sicherheitsnormen für alle deutschen Atomkraftwerke die Rede ist - würden sie umgesetzt, könne dies zum Aus für alle AKW führen.

Kernkraftwerke Neckarwestheim und Philippsburg muessen vom Netz

Kernkraftwerk Philippsburg im Landkreis Karlsruhe: Will das Umweltministerium Sicherheitsstandards für Atomkraftwerke deutlich heraufsetzen?

(Foto: dapd)

Umweltminister Norbert Röttgen hat die Existenz dieses Papieres bestätigt - es aber als "Materialsammlung" bezeichnet, damit über "alle denkbaren Gesichtspunkte diskutiert" werde. Das Papier fließe also lediglich in den Diskussionsprozess ein.

Das Papier liste auf, worauf die Reaktoren in den kommenden drei Monaten überprüft werden sollen, berichtet Kontraste. Aus Sicht von Reaktorbetreibern seien die genannten Hürden so hoch, dass ein völliges Ende des deutschen Atomzeitalters eingeläutet werden könnte. Denn auch neuere Kernkraftwerke dürften angesichts der womöglich nötigen Nachbesserungen ihre Rentabilität verlieren.

Der neue Katalog fordert den Angaben zufolge unter anderem hochwasser- und erdbebensichere Atomkraftwerke. Alle erdenklichen Nachrüstungsmaßnahmen müssten die Gefahren eines Stromausfalls besser abwenden. Auch Flugzeugabstürze dürfen demnach keine Gefahr mehr darstellen. Notstromdieselaggregate, Rohrleitungen und Notstandssysteme müssten verbunkert werden.

All diese Maßnahmen müssten "nach heutigem Stand von Wissenschaft und Technik" erfolgen und "unverzüglich" umgesetzt werden, heißt es demnach in dem Papier. Kontraste zufolge erfüllt derzeit kein deutsches AKW die neuen Kriterien.

Atomdebatte im Bundesrat

Der langjährige Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium, Wolfgang Renneberg, sprach in dem TV-Beitrag von einer "unglaublichen Entwicklung": "Solch konsequente Forderungen sind bislang nicht bekannt geworden. Im Gegenteil, das Bundesumweltministerium hat bislang alles getan, um neueste Sicherheitsanforderungen nicht zu stellen."

Dass der derzeitige Zustand der deutschen Kernkraftwerke nicht optimal ist, findet auch die Deutsche Polizeigewerkschaft. Ihr stellvertretender Chef Hermann Benker sagte der Bild-Zeitung, die Polizei könne "gezielte Terrorangriffe auf AKW nicht verhindern". Außerdem gebe es "kein effektives Alarmsystem", um die Bevölkerung nach einem AKW-GAU schnell flächendeckend zu informieren, sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt der Neuen Osnabrücker Zeitung. Von den ehemals 100.000 Alarmsirenen seien inzwischen zwei Drittel abgebaut worden. "Wer Radio und Fernseher ausgeschaltet hat, bleibt heute zunächst blind und taub für Gefahren", so Wendt.

Unterdessen ist auch das letzte der sieben ältesten deutschen Atommeiler abgeschaltet worden. Der Energiekonzern RWE hat am Freitag das AKW Biblis A heruntergefahren. Der Konzern sei dazu vom hessischen Umweltministerium aufgefordert worden, sagte eine Sprecherin. Wann die Anlage komplett vom Netz gehe, hänge von technischen Abläufen und der Netzstabilität ab. Der Konkurrent Eon schaltete am Freitag sein AKW Unterweser ab.

An diesem Freitag befasst sich auch der Bundesrat mit dem Atomthema. Bei der Debatte geht es vor allem um einen Antrag des Bundeslands Nordrhein-Westfalen, das die von der schwarz-gelben Koalition beschlossene Rücknahme der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke wieder rückgängig machen will. Der Antrag, den auch andere SPD-Länder unterstützen, wird aber voraussichtlich keine Mehrheit bekommen.

Die SPD-geführten Bundesländer warnten vor Schadenersatzklagen der AKW-Betreiber wegen des Kurswechsels der Bundesregierung. Mit der Abschaltung der sieben ältesten Meiler habe die Regierung eine Entscheidung getroffen, die nicht durch die Rechtslage gedeckt sei, sagte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD). Zu Beginn der Sitzung hat die Länderkammer der Erdbebenopfer in Japan gedacht. Das Land erfahre derzeit unermessliches Leid, sagte die derzeitige Bundesratspräsidentin und nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Japan könne sich auf Hilfe aus Deutschland verlassen.

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