Donald Tusk hat seine Rolle gefunden: Es ist die des Außenpolitikers und zupackenden, verlässlichen Staatsmannes in Europa. Dass sein Land im Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, etwa ein Jahr nach Antritt seiner Regierung, kommt ihm gelegen. Besser als die Ungarn, von denen Polen nun übernimmt, würde es derzeit wohl fast jeder in Europa machen. Aber Polen reicht das nicht. Der Ministerpräsident hat sich Verhandlungen für einen Frieden in der Ukraine vorgenommen. Größer könnte der Anspruch kaum sein.
Die Dringlichkeit dieses Anliegens formulierte Tusk am Donnerstag beim Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Polen trage im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine die größte Last. Und zwar nicht nur, weil es 4,7 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investiere. Sondern auch, weil es mit insgesamt 1200 Kilometern Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad, zu Belarus und zur Ukraine nun mal am nächsten am Feind und am Kriegsgebiet sei.
Polen investiert massiv in den Schutz der Grenzen zu Kaliningrad und Belarus
Tusk nutzte einmal mehr die Gelegenheit, um zu erklären, dass sein Land mit seiner massiven Investition in den Schutz der Grenzen zu Kaliningrad und Belarus ganz Europa vor einem russischen Angriff schütze. Der polnische Premier wünscht sich nicht nur eine Anerkennung dieser Leistung, sondern wohl auch finanzielle Unterstützung und eine mögliche militärische Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern.
Von Friedenstruppen, die ein mögliches Abkommen mit Russland absichern könnten, war allerdings keine Rede. Er wolle die Spekulationen über eine mögliche Präsenz europäischer Soldaten in der Ukraine beenden, sagte der polnische Premier.
Macron selbst sagte nur, es müsse ein Weg gefunden werden, der die Interessen der Ukrainer und aller Europäer berücksichtige. Der zukünftige US-Präsident Donald Trump habe signalisiert, dass er versuchen werde, „die Linie dieses Konflikts“ zu verändern, sagte Macron in Warschau. Daher sei es nötig, sehr eng mit den US-Amerikanern wie auch weiterhin mit der Ukraine zusammenzuarbeiten, um eine Lösung zu finden. Tusk hatte gleich nach dem Wahlsieg Trumps gemahnt, die Europäer müssten selbst stärker werden.
Die polnischen Nachrichtensender arbeiten wieder seriös
Macron gratulierte Tusk zu einem Jahr im Amt. Keine Frage, innerhalb der EU freuten sich viele aufrichtig über den Wahlsieg des früheren EU-Ratspräsidenten. Im Inland hingegen hat Tusk weiterhin zu kämpfen. Im Frühjahr steht die Präsidentschaftswahl an. Sollte dann nicht sein Kandidat, sondern der der rechtsnationalistischen PiS-Partei gewinnen, kann dieser weiterhin Tusks Viererkoalition blockieren, wie jetzt bereits Andrzej Duda. Der verweigert Unterschriften zu Gesetzen und verhindert, dass das Verfassungsgericht entpolitisiert wird.
Doch dass Tusks Kandidat gewinnt, ist keineswegs ausgemacht. Längst nicht alle Wähler ziehen eine positive Bilanz. Man gesteht ihm zu, dass er innerhalb weniger Wochen nach Amtsantritt den von PiS zuvor komplett politisierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk, vor allem den Nachrichtenkanal und die Hauptnachrichtensendung, komplett umgebaut hat. Die Nachrichten sind wieder seriös, sogar PiS-Politiker haben eingesehen, dass sie an dem Sender nicht vorbeikommen.
Doch die meisten anderen Ziele ließen sich nicht so leicht erreichen. Justizminister Adam Bodnar kämpft redlich dafür, die Gewaltenteilung wiederherzustellen und auch seine eigene Doppelfunktion als Justizminister und Generalstaatsanwalt loszuwerden – ein Erbe seines PiS-Vorgängers. Doch die meisten Fachleute sind sich einig, dass die EU die blockierten Milliarden Euro an Subventionen für Polen zu früh und lediglich als Vertrauensvorschuss freigegeben hat. Faktisch hat sich innerhalb eines Jahres nicht viel verändert. Manche beklagen sogar eine noch größere Rechtsunsicherheit. Bodnar kann zu Recht Präsident Andrzej Duda verantwortlich machen, der alle Initiativen blockiert und im Sinne der PiS-Partei handelt.
Viele Frauen sind verärgert, weil das extrem strenge Abtreibungsverbot immer noch gilt
Doch nicht an allem ist der Präsident schuld. Deutliche Kritik gibt es etwa auch von Institutionen wie der politischen Batory-Stiftung oder der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte an Tusks Migrationspolitik. Die Pushbacks an der EU-Außengrenze zu Belarus wurden nicht beendet.
Zur Abschreckung von Migranten – die gezielt von Russland und Belarus auf diesen Weg geschickt werden – hat die Tusk-Regierung den von der PiS-Regierung errichteten Stahlzaun sogar noch verstärkt und erhöht. Noch in der Opposition hatte sie ihn kritisiert. Tusk spricht von speziell für den Angriff auf Grenzschützer ausgebildeten Menschen, die dort über die Grenzen kommen. Doch weiterhin irren Menschen, von der belarussischen Seite vorwärts-, von polnischer zurückgedrängt, in den Wäldern und Sümpfen an der Grenze herum. Immer wieder gibt es Verletzte und auch Tote.
Zugleich verletzt auch die neue Regierung mit ihrer Aufrüstung an der Grenze den Naturschutz massiv – der Urwald von Białowieża ist geschützt. Schon die PiS-Regierung hatte darauf keine Rücksicht genommen. Am meisten verärgert viele Frauen, dass weiterhin das extrem strenge Abtreibungsverbot gilt. Tusk hatte eine Legalisierung versprochen. Doch die Koalition, in der sehr unterschiedliche Parteien von links außen bis sehr konservativ vertreten sind, kann sich nicht einigen. Tusk mit seiner bürgerlichen Partei scheint das Thema bereits abgeschrieben zu haben.
Das schwierige und beängstigende Thema Ukraine und russische Bedrohung erscheint da beinahe einfach. Denn auf hohe Ausgaben für die Verteidigung können sich fast alle einigen. Und Tusk versucht mit seinem Image als Außenpolitiker, nicht nur Macron und andere Verbündete zu überzeugen, sondern will damit letztlich auch die eigenen Wähler bei der Stange halten.