Volksabstimmung:Unfall der tunesischen Demokratie

Volksabstimmung: Protest gegen die Verfassungsreform des Präsidenten: Demonstranten in der Hauptstadt Tunis. Einige von ihnen trugen Brot als Zeichen ihres Zorns über die hohen Lebensmittelpreise.

Protest gegen die Verfassungsreform des Präsidenten: Demonstranten in der Hauptstadt Tunis. Einige von ihnen trugen Brot als Zeichen ihres Zorns über die hohen Lebensmittelpreise.

(Foto: Jihed Abidellaoui/Reuters)

Am 25. Juli lässt Präsident Saied die Tunesier über eine neue Verfassung abstimmen, die seine Macht ausweiten würde. Er nutzt die Wut auf die politische Elite, die so groß ist wie vor der Revolution.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Wenige Tage vor der Volksabstimmung über die neue Verfassung hat Tunesiens Präsident Kais Saied eine neue Version seines Entwurfs vorgestellt. Demnach wird die Macht des Präsidenten stark ausgeweitet. Das Parlament soll zudem nicht mehr von den Wählern, sondern von regionalen Kommissionen bestimmt werden. Justiz und Regierung unterstehen nach Saieds Wunsch künftig der Kontrolle des Präsidentenpalastes. Am 25. Juli will der 2019 gewählte Verfassungsrechtler damit den Umbau der Demokratie abschließen, den er genau vor einem Jahr begonnen hat.

Seit dem vergangenen Sommer sichern in Tunis Polizeibeamte das mit Stacheldraht geschützte Parlamentsgebäude im Stadtteil Bardo. Seinen Putsch gegen Parlament und Regierung begründete Saied mit der akuten Gefahr für die Nationale Sicherheit. Überall im Land warteten Corona-Infizierte auf Parkplätzen und Klinikfluren vergeblich auf Medikamente und Ärzte. Doch im staatlichen Fernsehsender Watania liefen Übertragungen aus dem Parlament mit sich prügelnden Abgeordneten oder Berichten von in Bars sitzenden Ministern.

"Tunesien wurde im Ausland gerne als Vorzeigeland des arabischen Frühlings bezeichnet. Für viele Bürger hatte die Demokratie viel versprochen, aber nicht geliefert," sagt der politische Analyst Hamza Meddeb. "Die nach 2011 gewählten Parteien und Institutionen schienen in den Regionen sogar korrupter und unfähiger als vor der Revolution zu sein."

Wenige Stunden nachdem Saied im vergangenen Jahr das Parlament abgesetzt hatte, gingen die Tunesier auf die Straße. Aber nicht, um gegen den Staatsstreich zu demonstrieren, sondern aus Freude über den Rauswurf der Abgeordneten. Saied war darüber wohl selbst überrascht. Der 64-Jährige zögerte nicht lange und löste im Herbst die Abgeordnetenkammer endgültig auf. Im Januar berief er eigenmächtig Najla Bouden zur Premierministerin. Die Ingenieurin und ihre Minister müssen nun regelmäßig zum Rapport in den Präsidentenpalast.

Auf dem Land ist man für den autokratischen Weg

Die hölzerne Art und die langen Monologe Saieds im Vergleich zur modern gekleideten Premierministerin und den ausländischen Staatsgästen wecken bei vielen jungen Tunesiern Skepsis. Doch außerhalb der Hauptstadt Tunis glauben Jung und Alt mit großer Mehrheit daran, dass Saieds autokratische Art der einzige Weg ist, um mit der korrupten Elite aufzuräumen.

In Kasserine, Sidi Bousid oder Kef, dort, wo die Revolution 2011 begann, will man auch die moderaten Islamisten der Ennahda-Partei loswerden. Die Führung der Ennahda hatte vor der Revolution im Exil gelebt. Danach nahmen sich Ennahda-Funktionäre, was ihnen jahrzehntelang verwehrt worden war: Parteigenossen erhielten lukrative Positionen in Ministerien und Firmen.

Der von Saied gegen Ennahda und angeblich steuersäumige Geschäftsleute verhängte Hausarrest kommt vor allem im verarmten Südwesten gut an. Der Präsident veröffentlichte eine Liste mit den Namen Hunderter Verdächtiger. "Ich biete Ihnen Straffreiheit, wenn Sie das hinterzogene Geld in den armen Gegenden investieren", sagte Saied in staatsmännischem Ton. Mehrere Provinzgouverneure und Minister mussten zurücktreten. Doch danach änderte sich nichts. Auch unter Saieds Anhängern wachsen nun Zweifel, ob der Präsident einen Plan verfolgt und den drohenden Staatsbankrott verhindern kann.

Unbeirrt von der steigenden Wut der Bürger auf die exorbitant gestiegenen Lebensmittelpreise krempelt Saied im Alleingang auch gegen die Verbündeten das Land um. Das erlebte Sadok Belaid, Vorsitzender der von Saied ausgewählten Verfassungskommission, nachdem der Jurist am 20. Juni den Verfassungsentwurf vorgestellt hatte. Die zehn Tage später von Saied veröffentlichte Version hatte mit dem von den anerkannten Juristen erarbeiteten Papier nichts mehr zu tun.

Das Projekt des Präsidenten sei gefährlich und ebne den Weg zu einer Diktatur, so Belaid. Noch mehr in Rage schien ihn der Bezug auf den Islam zu bringen. Dessen Ziele solle der Staat zukünftig durchsetzen, sagt Saied. Das ist ein indirekter Hinweis auf die Scharia und ein scharfer Gegensatz zur Verfassung von 2014. Der Islam spielt in der aktuellen Verfassung keine Rolle, ein Kompromiss, auf den sich die Ennahda nach einem breiten gesellschaftlichen Diskurs eingelassen hatte. Der Verfassungsentwurf des Präsidenten sei hingegen "die Rückkehr zu den finsteren Zeiten der islamischen Zivilisation" so Kommissionschef Belaid.

Moral steht über Rechten und Freiheiten

Tunesien definiert sich in der Verfassung als Teil der islamischen Weltgemeinschaft, damit dürfte das gerade reformierte Erbschaftsrecht, das auch Frauen gleiche Rechte gibt, Geschichte sein, befürchten Kritiker. Artikel 55 hebt die öffentliche Moral über persönliche Rechte und Freiheiten. Damit dürften Unverheiratete oder die LGBTQ-Szene stärker ins Visier der Polizei geraten. Kritiker des Präsidenten oder des Staatsapparates leben schon jetzt gefährlich.

Der Aktivist Ahmed Bouziri war noch vergangenes Jahr von Saieds unorthodoxer Art angetan. "Ich glaubte direkt nach seinem Putsch, dass vielleicht eine ungewöhnliche, aber integre Persönlichkeit nötig ist, um das Land zu reformieren", sagt Bouziri. Bei dem Referendum am 25. Juli wird er wie viele in Tunis mit Nein stimmen. "In seiner ersten Version von Saied habe ich sogar in der Nummerierung der Paragrafen einen Fehler gefunden. Dafür fehlte die Gleichberechtigung von Frau und Mann."

Am Donnerstag diskutierten die Vertreter der Zivilgesellschaft in Tunis, ob sie dem Referendum fernbleiben oder mit Nein stimmen. Doch auch bei dem Treffen rechneten viele der Menschenrechtsaktivisten damit, dass Saied auf dem Land eine Mehrheit erhält.

Für den Präsidenten scheint das Ergebnis sowieso schon festzustehen. Laut Artikel 139 seines Entwurfes tritt die Verfassung am Tag der Verkündung des Abstimmungsergebnisses in Kraft, unabhängig davon, wie hoch die Wahlbeteiligung ist. Und womöglich auch unabhängig vom Ergebnis.

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