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Tunis:Tunesiens Präsident verhängt Ausgangssperre nach Straßenkämpfen

Nachdem Präsident Saïed den Premierminister, den Verteidigungsminister und die Justizministerin entlassen hat, kommt es zu Ausschreitungen. Nachts soll ab sofort niemand mehr das Haus verlassen, tagsüber greifen Kontaktbeschränkungen. Die Bilder.

Für die junge Demokratie Tunesien ist es die schwerste Bewährungsprobe seit 2011: Präsident Kaïs Saïed hat in einem umstrittenen Schritt Regierungschef Hichem Mechichi abgesetzt, die Arbeit des Parlaments für zunächst 30 Tage eingefroren und die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben. Zuvor waren regierungskritische Demonstranten auf die Straßen gegangen.

Tunesien ist das einzige Land, das als Demokratie aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist. In der Bevölkerung herrscht jedoch Unzufriedenheit, weil die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklafft. Mehrere Tag lang hatte es zuletzt Proteste gegen die Regierung und die Ennahda-Partei von Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi gegeben.

Der überraschende Zug von Präsident Saïed trieb seine Unterstützer in der Nacht auf Montag trotz einer Corona-Ausgangssperre zu Jubelfeiern auf die Straße. Sie zündeten laut Augenzeugen Leuchtfeuer und Feuerwerk, hupten in Autos, schwenkten Fahnen und sangen die Nationalhymne. Teils waren auf Videos Militärfahrzeuge zu sehen, die an den klatschenden Gruppen von Tunesiern vorbeifuhren.

Der seit 2019 amtierende Saïed zeigte sich in der Nacht kurz und versicherte, es handle sich um keinen "Putsch" und er wolle "keinen einzigen Tropfen Blut vergießen". Gewalt werde aber umgehend mit Gewalt der Sicherheitskräfte beantwortet.

Wie sich die Lage weiter entwickelt, bleibt abzuwarten. Am Montag schien Saïed die Übernahme der Regierungsgeschäfte mit Hilfe des Militärs sichern zu wollen.

Soldaten umstellten das Parlament sowie Gebäude der Regierung und des Staatsfernsehens in der Hauptstadt Tunis.

Aufgebrachte Demonstranten und Ennahda-Anhänger zogen am Montag zum Parlamentsgebäude, forderten Zugang und eine "Umkehrung des Staatsstreichs".

Einige Demonstranten versuchten auch, über das Tor zu klettern, hinter dem ein gepanzertes Militärfahrzeug geparkt war.

"Game over": Anhänger des tunesischen Präsidenten Kaïs Saïed skandierten ihrerseits Slogans gegen die moderat islamistische Ennahda-Partei.

Gegner und Anhänger von Präsident Saïed lieferten sich Straßenschlachten. Vor dem kaltgestellten Parlament bewarfen sich beide Seiten mit Steinen, mehrere Menschen wurden verletzt. Parlamentspräsident Rached al-Ghannouchi rief die Tunesier zu Protesten auf und sprach von einem Staatsstreich. Teils gab es auch Berichte über Angriffe auf Parteibüros der Ennahda.

Die 2014 in Kraft getretene Verfassung räumt Präsident Saïed in Artikel 80 das Recht ein, bei drohender "Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes" außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Die Auslegung das vage gefassten Artikels müsste ein Verfassungsgericht klären, dessen Gründung wegen eines Streits über dessen Zusammensetzung aber immer noch aussteht.

Für den Abend und die Nacht hat Präsident Saïed am Montag eine Ausgangssperre ausgerufen. Diese gelte ab sofort bis zum 27. August von 19 Uhr bis sechs Uhr morgens, hieß es in einer Erklärung des Präsidialamts auf Facebook. Ausnahmen gebe es nur für dringende medizinische Notfälle und Nachtarbeiter. Zudem dürften sich nicht mehr als drei Menschen in der Öffentlichkeit treffen.

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