Tunesien:Singende Prediger und Paradiesvögel

Tunesien: Der wohl chancenreichste Kandidat: Premier Youssef Chahed.

Der wohl chancenreichste Kandidat: Premier Youssef Chahed.

(Foto: Hasna/AFP)

Um das Präsidentenamt bewerben sich fast 100 Kandidaten.

Von Moritz Baumstieger

Am Freitag hatte er gerade noch rechtzeitig die nötigen Unterlagen bei der Wahlbehörde abgegeben, schon zwei Tage später konnte Youssef Chahed zeigen, dass er in das Rennen um die Nachfolge des Ende Juli verstorbenen Präsidenten Béji Caïd Essebsi als Favorit einsteigt: Als Chahed, der tunesische Premier mit Ambitionen, am Sonntag an der Malek Ibn- Anas-Moschee im feinen Tuniser Vorort Karthago einer Limousine entstieg, stand er sofort im Mittelpunkt. Bei dem Festtagsgebet zum höchsten islamischen Feiertag war die Politprominenz des Landes versammelt, Chahed war nicht der einzige Anwesende, der sich Hoffnungen macht, nach der vorgezogenen Wahl am 15. September in den nahen Präsidentenpalast einzuziehen. Auch optisch stach er nicht aus der Menge, trug wie die meisten anderen eine festliche weiße Robe - und doch konzentrierten sich die Kameras auf den 43-Jährigen. Obwohl seine Sparpolitik nicht nur beliebt ist, könnte Chahed der Amtsbonus aus seiner bisherigen Funktion ins nächsthöhere Amt tragen.

Die Kandidatur der Sängerin zeigt, wie viel das Land bei seiner Demokratisierung erreicht hat

Obwohl in den vergangenen Jahren viele Tunesier eher frustriert waren von dem politischen Chaos in Tunis und dem ausbleibenden wirtschaftlichen Aufschwung nach dem sogenannten Arabischen Frühling 2011, ist das Interesse an den Wahlen in diesem Jahr immens. Anfang Oktober wird das Parlament neu bestimmt, mehr als 15 000 Kandidaten bewerben sich um die 217 Abgeordnetenplätze, auf fast 1500 unterschiedlichen Wahllisten. Und auch die Zahl der Präsidentschaftskandidaten ist beeindruckend bis unübersichtlich: Bis Freitagabend hatten 98 Männer und Frauen ihre Bewerbung eingereicht - dreimal mehr als bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen nach dem Übergang zur Demokratie vor fast fünf Jahren. Im Bewerberfeld tummeln sich einige Kandidaten, die viel Aufmerksamkeit erzeugen, aber nur sehr geringe Chancen haben dürften, etwa der Anwalt Mounir Baatour, der offen homosexuell lebt und für die Rechte von Minderheiten eintritt oder die Popsängerin Nermine Sfar.

Nachdem die tunesische Politik zuletzt lange über eine Reform des Erbrechts gestritten hatte - der verstorbene Präsident Essebsi plante, entgegen der islamischen Tradition weibliche Erben mit männlichen gleichzustellen -, kündigte die Sängerin an, weit darüber hinausgehen zu wollen und den Erbanteil von Frauen als doppelt so hoch wie den von Männern festzuschreiben. In der eher konservativ geprägten Bevölkerungsmehrheit mögen solche Kandidaten bestenfalls als schrille Paradiesvögel wahrgenommen werden, dass ihre Kandidatur aber überhaupt möglich ist, zeigt hingegen, wie viel Tunesien neben allen Problemen bei seinem Demokratisierungsprozess bereits erreicht hat.

Aussichten auf ein Erreichen der Stichwahl dürfte neben Premier Chahed aber eher Abdelfattah Mourou haben, der für die islamisch geprägte Ennahda-Partei antritt. Der Anwalt gilt als volksnah und zeigt sich durchaus weltoffen, wenn er etwa in einer Fernsehsendung bei einer spontan Gesangseinlage Beethovens "Ode an die Freude" anstimmt - auf Deutsch. Mourou kam unter den Führungsfiguren der Ennahda-Partei, die sich 2016 zu einer Trennung von Politik und Religion durchrang, auf die besten Umfragewerte - steht allerdings mit seinen 71 Jahren nicht gerade für den Generationswechsel, den sich viele im Land nach der Amtszeit des greisen Essebsi wünschen.

Für dessen Partei Nidaa Tounes tritt Verteidigungsminister Abdelkarim Zbidi an. Wie stark die einst von Essebsi als breite säkulare Sammelbewegung gegründete Partei aber mittlerweile zerrüttet ist, zeigt ein kurioser Fakt: Im Bewerberfeld für die Präsidentschaft finden sich mehr als ein halbes Dutzend ehemaliger Führungskader von Nidaa Tounes, die neue Parteien gegründet haben. Weit größere Erfolgschancen als sie hat jedoch Nabil Karoui. Der 56-Jährige ist Meister des Selbstmarketings - dafür verfügt der "Berlusconi Tunesiens" genannte Millionär praktischerweise über einen eigenen TV-Sender. Im Ringen um die Aufmerksamkeit der Nation wird er Premier Chahed Konkurrenz machen.

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