Tunesien nach der Wahl:Neustart mit moderaten Islamisten

Kein anderes arabisches Land ist so liberal, nirgends wäre die Fallhöhe zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot größer und ein Bikiniverbot fataler: Tunesien beobachten, von Tunesien lernen, so lautet also das Gebot der Stunde. Denn das Ursprungsland der Arabellion ist der Lackmustest, ob moderate Islamisten die Zukunft der arabischen Welt sein können.

Sonja Zekri

Das Europäische Parlament zeichnet mit seinem Sacharow-Preis in diesem Jahr einen Toten aus: Mohammed Bouazizi, ein arbeitsloser Obsthändler, der sich in einer tunesischen Kleinstadt anzündete und durch seinen Tod den ersten der arabischen Volksaufstände auslöste - er wird posthum einer der Preisträger.

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Eine Anhängerin der En-Nahda-Bewegung feiert den Sieg ihrer Partei: Deren Vertreter versuchen seit Tagen, Ängste zu zerstreuen, sie seien zu radikal.

(Foto: AFP)

Neun Monate nach Bouazizis Tat könnte Tunesien der arabischen Welt nun erneut vorangehen: mit der Einbindung der demokratisch an die Macht gekommenen Islamisten in die Verfassungsgebende Versammlung, aber auch mit der Ernennung eines Präsidenten und Premiers für den Übergang. Tunesien ist der Lackmustest, ob die moderat Religiösen ihr Wort halten. Bei allen regionalen Schwankungen zwischen Küste und Landesinnerem: Kein anderes arabisches Land ist so liberal, nirgends wäre die Fallhöhe von einer offenen Gesellschaft zu Kopftuchzwang und Alkoholverbot größer. Und fast nirgendwo wäre ein Bikiniverbot fataler als im Touristenland Tunesien.

Was die Säkularen lernen können

Tunesien beobachten, von Tunesien lernen, so lautet also das Gebot der Stunde für Ägypten, wo bald ein monatelanger, undurchsichtiger und fälschungsanfälliger Wahlprozess beginnen wird. Von Tunesien lernen - das gilt aber auch für alle jene, welche vor allem die Türkei bislang für ein Vorbild hielten, als sei ein gläubiger Muslim als Premier bereits Garant für Wohlstand und Einfluss. In der Türkei aber ist der Laizismus in der Verfassung verankert, die Armee war lange stark, und die Regierungspartei hat für den Weg durch die Institutionen Generationen gebraucht. Das türkische Modell ist längst nicht überallhin übertragbar.

Von Tunesien lernen ist eine Aufgabe für alle Säkularen: Schmähungen gegen die lange verfolgten Islamisten kommen hier schlecht an. Ein Wahlkampf hingegen, der sich nicht nur in alarmierten und alarmierenden Zeitungsartikeln erschöpft, sondern die Nähe zum Wähler sucht, hat Chancen. In Tunesien wie in Ägypten steht der Säkularismus unter dem Verdacht, er sei eine Haltung für Besserverdienende. Dieser Vorbehalt lässt sich kaum dadurch entkräften, dass die Liberalen über das ungebildete, korruptionsanfällige Wahlvolk schimpfen oder, wie es in Ägypten geschehen könnte, schlimmstenfalls für die Fortsetzung der Militärregierung optieren.

Von Tunesien lernen - das ist auch Libyen zu empfehlen, dessen Kriegskrüppel in Tunis über die Avenue Bourguiba humpeln und ein bisschen verächtlich auf die Tunesier herabblicken. Diese haben schließlich ihren gestürzten Präsidenten Ben Ali ins Ausland fliehen lassen und ihn nicht, wie Gaddafi, in einer Gewaltorgie zur Strecke gebracht. Die Tunesier haben die juristische Verfolgung des alten Regimes - wenn auch zum Bedauern vieler - auf politisch stabilere Zeiten verschoben und die einstigen Gegner nicht gefesselt abgeschlachtet.

Vielleicht ist ebendies für die Entwicklung einer neuen arabischen Welt ohnehin die richtige Entscheidung. Ohnehin ist die ganze Debatte über die Einhegung des Islamismus langfristig weniger entscheidend als die Einhaltung humanitärer Mindeststandards. In einer Region, die vor Waffen starrt, Interessenkonflikte als Nullsummenspiel begreift und militärische Lösungen immer mitdenkt, hat die Nato mit ihrem Einsatz die Logik der Gewalt unfreiwillig bestätigt.

Viele Tunesier sind besser gebildet als viele Libyer, aufgeklärter, konservativer. Es gibt eine breite Mittelschicht, aber das Land ist auch zerrissen, aufgehetzt von zwei Lagern, die einander zutiefst misstrauen. Sollte gerade hier das Wunder eines Kompromisses über alle ideologischen Vorbehalte hinweg gelingen, würde eine politische Niederlage, anders als bisher, nicht automatisch die physische Vernichtung nach sich ziehen, dann wäre für die politische Kultur der Region viel gewonnen.

Am Ende lässt sich Demokratie eben doch weniger am Ergebnis einer Wahl ablesen als am Prozess.

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