Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Der Präsident und die angebliche Migrationsverschwörung

Lesezeit: 3 Min.

Tunesiens Staatsoberhaupt Kais Saied versucht, mit Tiraden über Einwanderer zu punkten.

Von Mirco Keilberth, Tunis

Am Montag ist das seit dem 25. Juli 2021 geschlossene tunesische Parlament erstmals wieder für eine Sitzung geöffnet worden. Präsident Kais Saied hatte inmitten der Corona-Pandemie die Abgeordneten und die Regierung abgesetzt und regiert seitdem per Dekret. Die aktuelle Regierung von Premierministerin Najla Bouden berichtet an den 64-jährigen Juristen, der das Wahlgesetz für die Parlamentswahl eigenhändig geschrieben hatte.

Sie wurde in zwei Runden im Dezember und im Januar abgehalten, die Wahl einer zweiten Kammer soll im Mai stattfinden. Doch auch die Rückkehr der Parlamentarier bedeutet keinen Neustart des demokratischen Systems, das Tunesien bis 2021 zu einer Ausnahme unter den Ländern des arabischen Frühlings gemacht hatte.

Vor dem mit Stacheldraht gesicherten Parlamentsgebäude warteten tunesische und internationale Journalisten vergeblich auf Einlass. Nur staatliche Medien durften der Debatte der Abgeordneten beiwohnen, von denen die meisten wie Kais Saied Politik-Quereinsteiger sind. Nach den ersten Wortgefechten unterbrach der staatliche Sender Watania die Übertragung. "Ich kämpfe mit meiner Familie darum, finanziell über den Monat zu kommen", fasst eine Passantin die Meinung vieler Tunesier zusammen. "Von mir aus hätte man das Parlament geschlossen lassen sollen, denn die neuen Abgeordneten wurden von einer kleinen Minderheit und meist ohne Wahlprogramm gewählt."

Die Bevölkerung hat das Vertrauen in die politische Elite verloren

Nach elf Regierungen in zehn Jahren haben die Tunesier den Glauben an die politische Elite gänzlich verloren. Auch die nach der Revolution zur Volkspartei aufgestiegene moderat-islamistische Ennahda-Bewegung ist durch Vetternwirtschaft und ihre Nähe zu radikalen Gruppen in armen Gegenden massiv in der Gunst abgestürzt. Der als nicht korrupt geltende Präsident Saied konnte das politische Vakuum für sich nutzen, auch weil sich viele Protestwähler mit den Details seiner Ideologie, einer kruden Mischung aus Panarabismus, Basisdemokratie und Autokratie, kaum beschäftigten.

Doch Saied setzt sein Wahlprogramm von 2019 Wort für Wort um. Doch weil er es versäumte, ein Reformkonzept gegen die seit der Corona-Pandemie anhaltende Wirtschaftskrise vorzulegen, sanken zuletzt auch seine Umfragewerte dramatisch. Bei den Parlamentswahlen im Dezember und der Stichwahl im Januar lag die Wahlbeteiligung nur bei 11,3 Prozent.

Insider berichten, der Besuch des italienischen Außenministers Antonio Tajani habe Kais Saied auf die Idee gebracht, von seinem Zustimmungstief und der Gefahr von sozialen Unruhen mit dem Thema Migration abzulenken. Tunesien sei doch wie auch Italien ein Opfer der illegalen Migration, hatte Tajani im Januar gesagt.

Zu einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar lud Kais Saied Generäle von Armee und Nationalgarde und mehrere Minister in den Präsidentenpalast, um über Migration zu sprechen. Was als unspektakuläres Treffen begann, sollte später den guten Ruf Tunesiens auf dem Kontinent und in der Welt schwer erschüttern.

Tunesische Medien und Gewerkschaften hatten in den Tagen zuvor die Verhaftungen mehrerer Rechtsanwälte, Richter und Politiker kritisiert und tausende Demonstranten gegen Saied auf die Straße gebracht. Die Verhaftung ehemaliger Ennahda-Funktionäre ohne handfeste Anklagen stieß in säkulären Kreisen sogar noch auf Sympathie. Als dann aber Noureddine Boutar, der Besitzer des privaten Radiosenders Mosaique FM hinter Gittern verschwand, wurde die Kritik aus Zivilgesellschaft und Gewerkschaften so stark, dass Saied reagieren musste. In der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates holte er zum Gegenschlag aus.

Hinter dem Phänomen der illegalen Migration stünden kriminelle Machenschaften und eine internationale Verschwörung, so der Präsident. Ziel des Plans unbekannter Mächte sei es, die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern. Tunesische Menschenrechtsaktivisten würden dabei helfen, irreguläre Einwanderer anzusiedeln und die arabische und islamische Identität des Landes verschwinden zu lassen.

An einem Wochenende rettete Italiens Küstenwache 1600 Geflüchtete aus Seenot

Seit der Rede trauen sich in Tunis viele Migranten aus Subsahara-Afrika nicht auf die Straße. Die Polizei hatte noch am Tag der Rede mehrere Tausend Menschen mit dunkler Hautfarbe festgenommen. Wer eine Aufenthaltsgenehmigung hat, wurde oftmals erst nach Tagen wieder freigelassen. Nachbarn und Unbekannte bewarfen einige der geschätzt 25 000 Migranten mit Steinen. Krankenhäuser nahmen zeitweise keine westafrikanischen Patienten mehr auf. Mali, die Elfenbeinküste und Guinea flogen daraufhin mehrere Hundert ihrer Staatsbürger per Luftbrücke zurück in die Heimat.

Saied sicherte Umaro Sissoco Embaro, dem Präsidenten Guineas, die Sicherheit der in Tunesien lebenden Afrikaner zu. Embaro steht der westafrikanischen Wirtschaftsvereinigung Ecowas vor und war spontan zu einer Krisensitzung nach Tunis gereist. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten sich schon viele Migranten von Tunis aus an in die Küstenstadt Sfax durchgeschlagen. Allein am vergangenen Wochenende rettete die italienische Küstenwache 1600 Menschen aus der Seenot. Die meisten von ihnen waren mit Fischerbooten von der tunesischen Küste nach Norden gestartet.

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