Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Hoffnung auf einen Unbekannten

Ein parteiloser, bislang unbekannter Verwaltungsfachwirt soll die neue tunesische Regierung bilden. Er will sich acht Frauen ins Kabinett holen und einen blinden Kulturminister.

Von Moritz Baumstieger

Die gute Nachricht zuerst: Der noch relativ junge Landwirtschaftszweig der tunesischen Himbeer-Produktion blüht. Nur zwei Jahre, nachdem die erste Plantage in dem nordafrikanischen Land angelegt wurde, vermeldet die staatliche Nachrichtenagentur Tunis African Press für das erste Halbjahr 2020 einen Rekordertrag von 129 Tonnen, die fast alle in den Export gingen. Wichtige Einnahmen trotz Corona - wenn Schwergewichte der tunesischen Wirtschaft wie die Tourismusindustrie wegen der Pandemie brachliegen, müssen kleine, leichte Beeren herhalten, um etwas Optimismus zu verbreiten.

Um die mannigfaltigen Probleme des Landes zu lösen, wird Hichem Mchichi aber weit mehr brauchen als Rekordmeldungen aus dem Agrarsektor. Der bisherige Innenminister und designierte Premier hat es zwar geschafft, eine durchaus respektable Liste von 25 Ministern und drei Staatssekretären zusammenzustellen, die das Land künftig führen sollen. Doch, und das ist die schlechte Nachricht: Ob das fragmentierte Parlament am 1. September dieser Regierung zustimmen wird, ist nicht abzusehen - und im Fall eines Scheiterns wären Neuwahlen unumgänglich. Das Machtvakuum, das in Tunis mitten in der schwierigen Zeit der Corona-Krise herrscht, bliebe auf unabsehbare Zeit bestehen.

Erst im Herbst 2019 hatte das Land, in dem sich vor nunmehr fast zehn Jahren der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen die Perspektivlosigkeit selbst verbrannte und damit den arabischen Frühling einleitete, ein neues Parlament und ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Die Unzufriedenheit über die anhaltende wirtschaftliche Flaute war schon da groß, doch während andere Länder wie Syrien und das Nachbarland Libyen weiter in Bürgerkriegen gefangen waren und etwa Ägypten wieder auf direktem Wege zurück in die Diktatur ging, gelang in Tunis ein weiterer friedlicher Machtübergang.

Die Wahlergebnisse machten ein Regieren jedoch schwierig. Das Präsidentenamt hatte mit Kaïs Saïed ein knochentrockener Verfassungsrechtler erobert, der sich als Antipolitiker gibt und den Spitznamen Robocop trägt. Er gehört keiner der großen Parteien an - wobei man nach der Parlamentswahl kaum mehr von solchen sprechen kann: Selbst die hervorragend organisierte muslimdemokratische Ennahda fuhr weniger als 20 Prozent der Stimmen ein, wurde damit aber stärkste Kraft im Parlament.

Der designierte Premier Mchichi hat ein Kabinett "unabhängiger Technokraten" zusammen gestellt

Nachdem es der Partei nicht gelungen war, nach der Wahl ihren Kandidaten für das Premiersamt durchzubekommen, trug sie die Regierung von Hichem Mchichis Vorgänger Elyes Fakhfakh mit. Obwohl er der Ennahda sechs Ministerämter zusprach, fühlte sich die Partei mit ihren politischen Vorstößen notorisch missachtet. Als dann auch noch Vorwürfe von Interessenskonflikten gegen den seit Februar amtierenden Premier publik wurden und ein Misstrauensvotum drohte, trat Fakh-fakh am 15. Juli zurück. Präsident Saïed erteilte daraufhin dem parteilosen Verwaltungsfachmann Mchichi den Auftrag zur Regierungsbildung - und überraschte damit Freund und Feind: Keine der großen Parteien hatte den 46-Jährigen für das Premiersamt vorgeschlagen.

Vor seinem überraschenden Wahlsieg im November 2019 hatte Saïed seine Abneigung gegenüber dem parlamentarischen System in seiner jetzigen Form und gegenüber den großen Parteien keinen Hehl gemacht. Dass er die Kräfteverhältnisse im Parlament einfach ignoriert, mag deshalb nicht überraschen. Hichem Mchichi wird jedoch auf Mehrheiten angewiesen sein, wenn er sich mit seinem Kabinett am 1. September der Vertrauensfrage stellen wird. Trotzdem hielt er sich nicht lange damit auf, sich mit den größten Fraktionen zu beraten, sondern stellte seine Kabinettsliste ohne Konsultationen zusammen. Am Ende könnte Mchichi retten, dass die großen Parteien fürchten, bei Neuwahlen noch einmal schlechter abzuschneiden als beim letzten Urnengang.

Obwohl Mchichi einige Minister des vorherigen Kabinetts übernahm, bezeichnet er sein Kabinett als eines "unabhängiger Technokraten, die schnell dringend benötigte Lösungen" produzieren könnten. Tatsächlich zwangen einige Kandidaten auf der 28 Namen umfassenden Liste auch einheimische Medien zu hektischen Recherchen, bisher waren sie in Verwaltung oder Privatwirtschaft tätig, in der politischen Szene eher unbekannt. Mit acht Ministerinnen, die durchaus Schlüsselressorts halten, ist der Frauenanteil im Kabinett hoch, für Aufmerksamkeit sorgte die Nominierung von Walid Zidi für das Kulturressort, der 34-jährige Doktor der Literaturwissenschaften ist seit dem zweiten Lebensjahr blind. Auffällig ist aber vor allem, dass Mchichi die Portfolios für Finanzen, Wirtschaft, Entwicklung und internationale Zusammenarbeit in eine Hand legen will, hierfür hat er Ali Kooli gewonnen, bisher Generaldirektor einer Großbank. Dadurch, so wohl die Hoffnung des designierten Premiers, sollen wirtschaftliche Erfolgsmeldungen bald nicht mehr nur von Himbeerzüchtern kommen.

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SZ vom 28.08.2020
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