Am Donnerstagabend hat Tunesiens Präsident Kais Saïed seinen lang erwarteten Verfassungsentwurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Seit er Parlament und Regierung im Sommer vergangenen Jahres abgesetzt hat, kündigte der Juraprofessor immer wieder eine radikale Reform des politischen Systems des Vorzeigelandes des Arabischen Frühlings an. Nach der Entlassung des Parlaments, der Regierung und zahlreicher Richter, Provinzgouverneure und Beamter regiert Saïed Tunesien mittlerweile alleine.
Laut seinem neuen Verfassungsentwurf sollen lokale Räte und nicht mehr die von ihm kritisierten politischen Parteien zukünftig die Parlamentsabgeordneten stellen. Am 25. Juli, dem Jahrestag seines Putsches, wird über die neue Verfassung abgestimmt.
Doch bei Gewerkschaften, politischen Parteien und der Zivilgesellschaft stößt der vorgelegte Entwurf auf Ablehnung. Denn damit wird die derzeitige rechtlich umstrittene Alleinherrschaft des Präsidenten legalisiert. Exekutive und Rechtsprechung stünden zukünftig wie die Armee unter seiner direkten Kontrolle. Der 64-Jährige könnte Minister und Richter ernennen.
Ibrahim Bouderbala ist einer der von Saïed ernannten Experten der Verfassungskommission, die das Dokument erarbeitet hat. Der Jurist glaubt, dass zukünftige Regierungen nach dem neuen System effektiver würden. "Bisher wurden politische Parteien für Inkompetenz zur Rechenschaft gezogen, von nun an muss jeder Regierungschef gegenüber dem Präsidenten Rechenschaft ablegen."
Einige fürchten, dass alles wieder wird wie vor 2011
Ein neu eingeführter "Rat der Regionen und Distrikte" soll - wie das Parlament - über vom Präsidenten vorgeschlagene Gesetzesentwürfe befinden. Die Mitglieder des Rates werden von lokalen Kommissionen bestimmt, die der Kern von Saïeds Vision einer Basisdemokratie sind. "Mit diesem Verfassungsentwurf werden die Tunesier wieder mehr Mitsprache bei demokratischen Entscheidungsprozessen haben", sagt Kommissionsmitglied Bouderbala.
Doch viele Bürger fühlen sich vom Umbau des Staates ausgeschlossen. Zwar konnten die Tunesier auf einer Onlineplattform seit Januar der Verfassungskommission ihre Vorschläge für die Paragrafen schicken. Doch wegen technischer Probleme und fehlendem Glauben an der Reformierbarkeit der politischen Elite beteiligten sich weniger als sieben Prozent der Wähler an dem Prozess.
"Wenn nicht einmal Behörden per Mail zu erreichen sind oder über eine funktionierende Website verfügen, wie kann man dann eine solche grundsätzliche gesellschaftliche Diskussion als Online-Abstimmung abhalten?", fragt der politische Analyst Selim Kharrat von der Denkfabrik Al Bawsala.
Wie viele Vertreter der Zivilgesellschaft sieht Kharrat in dem Verfassungsprojekt des Präsidenten die endgültige Rückkehr zu einer Alleinherrschaft wie vor der Revolution 2011. Die landesweit größte Gewerkschaft UGTT und die Vereinigung der Richter lehnen das von Saïed persönlich ernannte Verfassungskomitee ebenfalls ab und damit auch das für den 25. Juli geplante Referendum.
Auch die anderen Vertreter des sogenannten Quartet du dialogue, das 2015 den Friedensnobelpreis für die Verhinderung eines Bürgerkrieges erhalten hatte, sind zurückhaltend. Aus Kreisen des Arbeitgeberverbandes wird Kritik daran laut, dass eine dringend nötige Wirtschaftsreform nicht im Fokus steht. Wegen der Corona-Pandemie sind zwei Touristensaisons ausgefallen und durch die Folgen des Ukraine-Kriegs sind die Lebensmittelpreise extrem gestiegen - dem tunesischen Staat und vielen Familien geht das Geld aus.
Saïed gilt als Sturkopf - er dürfte seinen Plan einfach durchziehen
Doch auch die Kritiker von Saïeds Plan sind davon überzeugt, dass der oft als sturköpfig bezeichnete Präsident seinen Plan auch ohne Unterstützung der politischen Elite durchzieht. Die unabhängige Wahlkommission des Zwölf-Millionen-Einwohner-Landes hat bisher 9,2 Millionen Wähler für das Referendum registriert. Doch selbst bei minimaler Wahlbeteiligung würde eine einfache Mehrheit bei der Abstimmung reichen, um die neue Verfassung in Kraft zu setzen, behaupten die Rechtsexperten des Präsidentenpalastes.
Seine Gegner aber wollen Saïeds Pläne mit Streiks und Straßenprotesten durchkreuzen. Am 16. Juni legte die UGTT das öffentliche Leben mit einem Generalstreik lahm, die moderaten Islamisten der Ennahda-Partei brachten bei Demonstrationen mehrere Tausend Anhänger auf die Straße.
Ausländische Beobachter zeigen sich vor allem besorgt, dass die Justiz unter die Kontrolle des Präsidentenpalastes fällt. Das westliche Modell der Gewaltenteilung war in die als Erfolg gefeierte tunesische Verfassung von 2014 aufgenommen worden.
Doch diese Verfassung wurde durch Streit zwischen den politischen Lagern, jährlich wechselnde Regierungen und ein schwaches Parlament vor allem außerhalb von Tunis immer unbeliebter. Im vergangenen Juli protestierten in einem Dutzend Städte Menschen gegen die mitregierende Ennahda-Partei und ein Parlament, das ihrer Ansicht nach nichts tat, um die zeitweise weltweit höchsten Corona-Infektionszahlen zu senken. Saïed nahm die gewalttätigen Proteste zum Anlass, mithilfe der Sicherheitskräfte Parlament und Regierung abzusetzen. Auch ein Jahr nach seinem Putsch versperren Beamte in Zivil und Stacheldraht den Zugang zu dem Parlament im Stadtteil Bardo.
"Eines ist sicher: Die Jugend verlässt das Land in Massen"
Der Aktivist Omar ben Amor aus der Hafenstadt Sfax glaubt, dass Tunesien nach dem Referendum vom 25. Juli ein neues Land sein wird. Er hält es für möglich, dass Kritiker verhaftet werden, dass es zu Gewaltausbrüchen zwischen Befürwortern und Gegnern des Präsidenten kommt. "Eines ist sicher: Die Jugend verlässt das Land in Massen und hat die Hoffnung auf schnelle Veränderung ihrer Lebensumstände aufgegeben."
Im Vergleich zum vergangenen Jahr kamen in 2022 nach Angaben des italienischen Innenministeriums 57 Prozent mehr Tunesier illegal per Boot nach Sizilien oder Lampedusa. Tatsächlich dürfte die Zahl wesentlich höher liegen, denn viele der kleinen zur 20-stündigen Überfahrt genutzten Boote bleiben unentdeckt.
Junge Tunesier flüchten nicht aus wirtschaftlichen Gründen. Die konservativen Regeln in ihren Familien und in der Öffentlichkeit betrachten vor allem junge Frauen als nicht mehr akzeptabel. Daher ist vor allem in den französisch geprägten Vororten von Tunis die Kritik an Saïeds Verfassungsentwurf besonders groß.
Denn anders als in den von der Verfassungskommission vorgeschlagenen Version wird nun in der Präambel direkt Bezug auf den Islam genommen. Die Verfassung von 2014 machte Tunesien zu einem säkularen Staat. In Cafés in Tunis wurde am Freitag darüber gestritten, ob auch diese Epoche nun vorbei sei, ob Kritik an Saïed und der Bruch religiöser Regeln künftig ins Gefängnis führen.
Omar ben Amor glaubt, dass vor allem in den verarmten Regionen südwestlich von Tunis die Mehrheit für Saïeds zweiten Putsch stimmen wird. Dort hielten viele den Präsidenten für integer, sagt ben Amor. "Aber aus den falschen Gründen. Nur, weil er nicht korrupt und nicht Teil der politischen Elite ist, muss man doch nicht die Herrschaft eines Einzelnen befürworten."