Süddeutsche Zeitung

Tunesien:Der Arabische Frühling ist noch nicht verloren

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Viele junge Islamisten sind von dem moderaten System in ihrer Heimat enttäuscht. Mit Terror versuchen sie zu erreichen, was die Revolution ihnen verwehrte. Aber die Zivilgesellschaft Tunesiens ist zu stark, um ihnen das Feld zu überlassen.

Kommentar von Rudolph Chimelli

Tunesier waren, bei aller staatsbürgerlichen Disziplin, immer aufsässig. In Tunesien begann mit der Selbstverbrennung eines Arbeitslosen die arabische Revolte, aus der mit dem Sturz des Tyrannen Ben Ali die Frühlingshoffnungen der Araber entstanden. Tunesiens Islamismus aber erwies sich, einmal in die politische Verantwortung vorgerückt, als demokratieverträglich. Grundlage des heutigen Systems ist eine Art Burgfrieden zwischen Bürgerlichen, gemäßigten Islamisten, linken Pragmatikern und der Wirtschaft.

Doch gerade das passt den Radikalen nicht, die von der Revolution enttäuscht wurden. Sie wollen nicht eine Republik, die wesentliche Elemente des von den Franzosen ererbten Laizismus übernommen hat, sie wollen einen islamischen Staat - in ihrer Heimat und in der größeren Welt der Gläubigen.

Deshalb leidet das Land, während es ordnungsgemäß eine Verfassung, Wahlen und neue Institutionen zustande brachte, unter der Gefahr terroristischer Gewalt. Im Schatten des Weltinteresses führt die Armee einen Dauerkrieg in den Bergen gegen Banditen. Für islamistische Gewalttäter aus Tunesien sind Libyen und Algerien eine nützliche Etappe. Einzelne Attentate irgendwo im Land gab es immer. Heute stellen tunesische Freiwillige eines der stärksten Kontingente des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak. Durch eine Revolution, die sie zu Hause nicht schafften, wollen sie nun an der Seite des falschen Kalifen die ganze islamische Welt gewinnen. Ihre Motive erinnern manchmal an jene vieler anderer fehlgeleiteter junger Idealisten in der Geschichte, die ihr Leben für eine erhoffte Revolution in die Schanze schlugen.

Schwerer Rückschlag auf dem Weg zur Normalisierung

Der blutige Anschlag auf den Bardo-Palast bedeutet einen schweren Rückschlag auf dem tunesischen Weg zur Normalisierung. Der Tourismus, der radikalen Islamisten als Motor der Verwestlichung und der Sittenverderbnis verhasst ist, ist besonders betroffen. Er hatte sich erst im vergangenen Jahr ein wenig aus tiefer Flaute erholt. Aber die Zivilgesellschaft Tunesiens ist zu stark und zu gefestigt, um Terroristen das Feld zu überlassen. Tunesiens politische und ökonomische Führungseliten sind zu eng mit denen Europas und speziell Frankreichs verbunden, um zu resignieren, zu fliehen, oder auszuwandern.

Es gibt kaum eine tunesische Familie, die nicht Angehörige jenseits des Mittelmeeres hat. Die Mehrheit des Volkes, die sich ja nicht professionell mit Politik befasst, will Ruhe als Voraussetzung eines Wohlstands, der auf sich warten lässt. Das Volk in seiner Mehrheit wünscht eine islamisch geprägte Gesellschaft, aber keine Herrschaft der Extremisten. Die kleinen Freiheiten des Alltags, Musik, Tanz, festliche Hochzeiten, ein Ausgang mit Speis und Trank, die Entscheidung der Frauen, ein Kopftuch zu tragen oder nicht - all das will die Mehrheit der Tunesier auch in Zukunft erhalten sehen.

Graue Einheitlichkeit gehörte nie zu den Landesfarben des heiteren Tunesiens. In diesem Land ist der Arabische Frühling - dem Terror von Tunis zum Trotz - noch nicht ganz verloren.

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Quelle:
SZ vom 20.03.2015
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