Süddeutsche Zeitung

Tunesien:"Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen"

Die Regierung in Tunesien bekommt die rasant steigenden Coronazahlen nicht in den Griff. Wie politische Spannungen den Kampf gegen die Pandemie erschweren.

Von Philippe Pernot

Leere Straßen, überfüllte Krankenhäuser: Tunesien muss wieder einen Lockdown für weite Teile des Landes einführen. Zwischen Pandemie, dramatischer Wirtschaftskrise und politischen Engpässen erscheint die Lage im nordafrikanischen Land als geradezu explosiv, es kursieren sogar Gerüchte über einen angeblichen Putschversuch. Die fast 10 000 neuen Infektionen kann die Regierung genauso wenig bekämpfen, wie die massive Jugendarbeitslosigkeit, die bei 41 Prozent liegt. Viele Krankenhäuser sind voll, und es fehlt an allem. Am Samstag starben 194 Menschen an Covid-19. Dem Personal bleiben häufig nur dramatische Hilferufe.

"Die aktuelle Gesundheitssituation ist katastrophal", sagte Nissaf Ben Alaya, Sprecherin des Gesundheitsministeriums, in einem Interview mit einem tunesischen Radiosender am Freitag. "Das Gesundheitssystem ist leider zusammengebrochen." Sechs Regionen befinden sich bis zum 31. Juli im Lockdown, doch steigt die Infektionsrate immer noch rasant. Insgesamt sind in Tunesien mehr als 16 000 Menschen an Covid-19 gestorben, und fast eine halbe Million infiziert worden, in einem Land mit 11,7 Millionen Einwohnern.

"Tunesien leidet am Egoismus der reichen Länder, die die besten Impfstoffe gehortet haben. Die internationale Solidarität hat ihre Grenzen gezeigt", kritisiert Youssef Cherif, Leiter des Columbia Global Center in Tunis. Tatsächlich wurden laut Gesundheitsbehörden nur sechs Prozent der Bevölkerung geimpft. Im Rahmen der internationalen Covax-Initiative soll Tunesien 4,3 Millionen Dosen Impfstoff bekommen, geliefert wurden bislang nur 600 000. Darüber hinaus sei aber auch die aktuelle Regierung von Hichem Mechichi schuld am Corona-Debakel. "Am Anfang der Pandemie hat die ehemalige Regierung schnell und gut reagiert und viele Maßnahmen getroffen. Doch seither hat die politische Krise alles blockiert, und die neue Regierung ist unsolidarisch", sagt Youssef Cherif.

Denn heute herrscht ein offener Krieg zwischen den drei starken Männern Tunesiens. Der Präsident, Kais Saied, kam nach den Parlamentswahlen 2019 ohne Partei an die Macht, dank der Unterstützung vieler junger Wähler, die sein Antikorruptionsprogramm schätzten, ein Alleingänger also. "Er sieht die parlamentarische Demokratie als veraltet und will mehr direkte Demokratie einführen", erklärt Youssef Cherif.

Zentraler Streit ums Verfassungsgericht

Gegen ihn kämpfen die, die das parlamentarische System erhalten wollen: der Premier- und Innenminister Hichem Mechichi und Rached al-Ghannouchi, Chef der islamischen Partei Ennahda und Präsident des Parlaments. "Es ist sowohl ein Hahnenkampf um Macht und Einfluss als auch eine Schlacht um das politische System Tunesiens", sagt die Politikwissenschaftlerin Nedra Cherif.

Im Zentrum des Streits steht die Gründung des Verfassungsgerichts. Sie wurde seit 2014 jedes Jahr verschoben, "weil die Parlamentsparteien ihre Macht nicht verlieren wollen", sagt Nedra Cherif. Doch seit Kurzem treiben sie die Gründung des Gerichts voran, "um Präsident Saied zu entmachten". Dieser blockiert das Gericht, obwohl er es als Verfassungsrechtsprofessor eigentlich als Grundstein der Demokratie betrachtet. "Eine ironische und haarsträubende Lage", sagt die Forscherin.

Ende Mai kam es zum Eklat als ein - womöglich gefälschtes - Dokument geleakt wurde, in dem zu lesen war, dass Saieds Berater angeblich einen Putsch planten. Dem Präsidenten selbst wird seit Monaten vorgeworfen, einen "Soft Coup" durchzuführen. Tatsächlich hatte er Ende April behauptet, er sei Chef sowohl der Armee als auch der Polizei, was nicht im Einklang mit der Verfassung steht. Nedra Cherif spricht von Putsch-Gerüchten, die nur die Spannungen im Land offenlegen: "Der Präsident nähert sich immer mehr der Armee an, weil er keine andere Unterstützung innerhalb des Staates hat. Aber weder er noch das Heer sind antidemokratisch gesinnt", sagt sie.

Die Menschen in Tunesien müssen währenddessen zusehen, wie das Land in einen Teufelskreis stürzt. "Die Leute werden immer verzweifelter und wütender, sie trauen den Eliten nicht", sagt Insaf Bouhafs, Menschenrechtsaktivistin bei Anwälte ohne Grenzen. "Die Pandemie und ihre Bekämpfung hat die ohnehin schon marginalisierten Gruppen von verarmten Jugendlichen, Frauen und LGBTQ besonders hart getroffen", beklagt sie.

Die Regierung hätte nichts gemacht, um die Armut, Arbeitslosigkeit und häusliche Gewalt zu bekämpfen, ganz im Gegenteil. "Der Lockdown wird als Vorwand benutzt, um die Repression zu intensivieren. Die Polizei bekommt immer mehr Mittel und greift jetzt sogar Menschenrechtsverteidiger an, viele mussten ins Ausland fliehen", warnt sie. Im Januar waren massive Demonstrationen ausgebrochen, nachdem ein Jugendlicher von der Polizei erschossen wurde. "In Tunis wurden 2000 Menschen festgenommen, davon 600 Jugendliche, das erinnert an den Zeiten der Diktatur." Damit meint Insaf Bouhafs das Regime von Ben-Ali, das 2011 während des arabischen Frühlings gestürzt wurde. Seitdem wurde die Demokratie eingeführt und gefestigt, doch heute brauche sie dringend Reformen, sagt Insaf Bouhafs. Die Politik müsse vor allem der Jugend zuhören und ihr Chancen geben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5348779
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/perr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.