Tunesien:16 Tage Haft für einen Satz

Yassine Ayari

Schon seine Amtseinführung im Februar löste einen Skandal aus: Der Blogger Yassine Ayari verfolgt als Parlamentsabgeordneter das Ziel totaler Transparenz.

(Foto: Politie Flevoland VOA zuid)

In dem nordafrikanischen Land gilt seit der Revolution 2011 eigentlich Meinungsfreiheit. Einem kritischen Abgeordneten wie Yassine Ayari drohen dennoch politisch motivierte Prozesse.

Von Moritz Baumstieger, Tunis

16 Tage Haft. Wer schon einmal länger im Gefängnis saß, den schockt so ein Urteil vielleicht nicht. Yassine Ayari zumindest bläst an jenem Frühlingsnachmittag stoisch den Rauch der ersten von vielen Zigaretten in die Luft, zuckt wie gelangweilt mit den Achseln, wenn man ihn auf die Strafe anspricht, die ihm ein tunesisches Militärgericht wenige Stunden zuvor auferlegt hat. 16 Tage, soll das wohl heißen, was sind das schon verglichen mit den sechs Monaten, die er 2015 einsaß?

Andererseits: 16 Tage Haft - für einen einzigen Satz, den er auf Facebook gepostet hat? Obwohl in Tunesien seit der Revolution 2011 eigentlich Demokratie und Meinungsfreiheit herrschen? Obwohl am Sonntag die ersten Kommunalwahlen stattfanden, die als wichtiger Schritt zur Konsolidierung der Demokratie gelten? Und obwohl Yassine Ayari dem Land seit Februar als Abgeordneter dient und somit zu scharfer Rhetorik fast schon verpflichtet ist?

So gesehen sind 16 Tage schockierend - und die Strafe droht sogar noch höher zu werden: Am Dienstag will nun auch ein Zivilgericht darüber entscheiden, ob Ayari ein Verbrechen beging, als er einem Offizier auf seine Art zur Beförderung gratulierte: "Wie kann sich ein Mann, der so leicht verletzbar ist, als Generalstabschef eignen?", hatte Ayari auf Facebook geschrieben, als der Staatspräsident den General Ismail al-Fathalli zum obersten Soldaten der Republik ernannte. Dass er den Mann als Sensibelchen bezeichnete, hat mit Ayaris erster Haftstrafe zu tun: Schon 2014 musste er vor Gericht, weil sich al-Fathalli von einem Facebook-Post angegriffen fühlte, in dem Ayari die Armee kritisiert hatte. Das Urteil lautete auf drei Jahre, absitzen musste Ayari sechs Monate.

Dass die "Würde der Streitkräfte" im Zweifel noch immer über den Bürgerrechten steht, dass sich Richter für politisch motivierte Prozesse einspannen lassen - all das sagt viel über die Gefahren aus, denen die junge tunesische Demokratie ausgesetzt ist. Bis zu drei Jahre Haft und theoretisch sogar die Todesstrafe drohen im neuen Prozess, Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International geben sich alarmiert.

Radikale Offenheit, damit "die Politiker endlich anfangen, etwas zu arbeiten"

Dass sich Ayari solch einem Verfahren nicht einfach mit Verweis auf seine Immunität als Abgeordneter entzieht, sagt viel über seine Art aus, Politik zu machen. "Das Verfahren gegen mich ist politisch und illegal", sagt er. "Aber jeder sollte sehen können, mit welchen Mitteln diese Leute nach wie vor vorgehen." Wenn die Urteile rechtskräftig werden, werde er sich stellen und ins Gefängnis gehen.

Dass Yassine Ayari heute die Gerichtssäle und das Parlament als Bühne benutzt - "ich sitze immer am liebsten auf einem Platz direkt gegenüber der Kamera" - war ein Betriebsunfall des Polit-Establishments. Im tunesischen Parlament sitzen nicht nur Abgeordnete, die Wahlkreise im Land selbst vertreten. Unter den 217 Volksvertretern sind auch solche, die von Auslandstunesiern entsandt werden, auch die 100 000 Tunesier in Deutschland wählen einen Abgeordneten. Als der 2017 sein Mandat aufgab, weil er in ein Regierungsamt aufstieg, musste im Dezember nachgewählt werden.

Die größere, säkular ausgerichtete Regierungspartei Nidaa Tounes, die den Sitz bisher innehatte, wollte zunächst den Sohn des Staatspräsidenten als Kandidaten aufstellen. Der kleinere, islamisch geprägte Koalitionspartner Ennahda rechnete sich nur wenig Chancen aus und versuchte erst gar nicht, den Sitz zu erobern. Das Ergebnis war, dass der Blogger Yassine Ayari in das wenig beachtete Rennen einstieg, um "die Bildung von Dynastien in unserer Republik zu verhindern" - und gewann. Dafür reichten 265 Stimmen, keine fünf Prozent der deutschen Auslandstunesier gingen zur Wahl.

Ayari weiß sich Gehör zu verschaffen

Aber gewählt ist gewählt, nun sitzt Ayari im Parlament. Seine Amtseinführung löste gleich einen ersten Skandal aus, der Tunesiens Fernsehdirektor den Job kostete - ein Mitarbeiter des Staatsfernsehens hatte die sonst übliche Übertragung der Parlamentssitzung sabotiert, sodass die Bildschirme schwarz blieben. In den etablierten Parteien spekulieren viele, dass Ayari in Wahrheit kein Unabhängiger sei, sondern ein verdeckter Anhänger dieser oder jener Kraft, manche Gegner rücken ihn sogar in die Nähe des IS - und das, obwohl sein Vater, ein Offizier, 2011 von Islamisten erschossen wurde. Von tunesischen Offiziellen, etwa der Botschaft in seinem Wahlkreis Deutschland, wird Ayari nach eigenen Angaben ignoriert und nicht eingeladen - zu groß ist bei einigen wohl der Ärger, dass er die Partei und die Familie des Staatspräsidenten bloßgestellt hat.

Doch Ayari weiß sich auch so Gehör zu verschaffen - und zwar so effektiv, dass viele seiner neuen Kollegen so etwas wie "Klugscheißer", "Aufwiegler" oder "Enfant terrible" zischeln, wenn sein Name fällt: Neben dem Aschenbecher liegt sein Smartphone, das unentwegt piepst. Und Ayari benutzt das Gerät am liebsten, um alte Seilschaften in der tunesischen Politik zu entlarven und das Versagen der neuer Amtsträger bloßzustellen.

Bevor er Politiker wurde, war Ayari Experte für Onlinesicherheit bei einer Bank in Paris, noch früher Blogger und Hacker. Er gehört zu jenen Online-Aktivisten, die das Internet früh als Raum für freie Meinungsäußerung entdeckten. 2010 musste er wegen seines Blogs ins französische Exil fliehen, träumte dort aber weiter davon, mit der Freiheitsmaschine Internet die Welt zum Besseren zu verändern.

Heute glauben viele Menschen im Internet eher eine Bedrohung für die Demokratie zu erkennen, doch Ayari hält an seinen alten Glaubenssätzen fest. "Wir müssen vielleicht noch lernen, wie man das Netz richtig benutzt", sagt er. "Doch die positiven Veränderungen, die es gebracht hat, sind so einschneidend wie die der industriellen Revolution." Totale Transparenz ist für Ayari deshalb kein Schreckensszenario, sondern erklärtes Ziel. Auf seiner Facebook-Seite finden sich fast täglich neue Dokumente: Entscheidungsvorlagen aus dem Parlament, seine Anfragen an die Regierung und Antworten, Schreiben und Notizen von Beamten und Ministern, Fotos von seinen Wahlzetteln. "Alles, was nicht dezidiert illegal ist", stelle er online, sagt Ayari. Und weil auch er transparent und bürgernah sein will, bekommt jeder, der ihm eine Nachricht schreibt, automatisch eine Antwort mit seiner Handynummer.

Für Tunesien will er durch diese radikale Offenheit erreichen, dass "die Politiker endlich anfangen, etwas zu arbeiten". Den Zustand des Landes vergleicht er mit dem des Parlamentes. Tunesien habe genau wie der einstmals prächtige ehemalige Königspalast ein "riesiges Potenzial, ist aber irre schlecht verwaltet". Für seine in Deutschland lebenden Wähler will Ayari erreichen, dass sie nicht weiter unter der Tat des Amokfahrers Anis Amri leiden müssen. Viele von ihnen seien Akademiker, Ärzte oder Ingenieure, früher hätten sich wegen ihres guten Images auch Marokkaner und Libanesen als Tunesier ausgegeben. "Heute stehen diese Leute unter Generalverdacht - und unsere Botschaft tut nichts, um das zu ändern."

Wenn im kommenden Jahr das Parlament regulär neu gewählt wird, will Ayari wieder antreten. Und er hofft, dass sein Beispiel noch weitere jener jungen Menschen zu einer Kandidatur ermuntert, die 2011 die Revolution trugen, dann aber von der Bildfläche verschwanden, als die politischen Ämter verteilt wurden. Kleinigkeiten wie 16 Tage Haft sollten die nicht abschrecken.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: