Süddeutsche Zeitung

Türkei:Flüchtlingscamp Kilis - Wo Merkel noch bewundert wird

Ärzte, Schulen und im Wohncontainer eine Sitzecke mit Fernseher: Nahe der syrischen Grenze lernt man, dass die Türkei Europa ein guter Partner sein kann - wenn sie nur will.

Von Mike Szymanski, Kilis

Büşra Seyhali hat sich ein Bild von Angela Merkel gemacht. Sie hat sich viel Zeit genommen, 15 Tage, um genau zu sein. Aus Hunderten winzigen Teilen hat sie es zusammengesetzt, Stück für Stück. Nun ergibt die Summe aller Teile eine milde lächelnde Kanzlerin auf 50 mal 80 Zentimetern. Ein Mosaik. Jedes Steinchen sitzt.

"Merkel ist eine starke Frau", sagt Büşra Seyhali. Sie sitzt in ihrem Wohncontainer, der drinnen behaglicher aussieht, als man es von außen erwartet. Gardinen am Fenster, eine winzige Sitzecke und hinter einem Vorhang ist ein Fernseher versteckt. Regen trommelt aufs Dach. Sie lebt mit ihrer Familie auf 21 Quadratmetern.

Büşra Seyhali ist 36 Jahre alt und auch eine starke Frau. Mit ihrem Mann und den sechs Kindern ist sie aus der Provinz Idlib in Syrien vor den Bomben geflohen. Ihr kleinstes Kind war noch ein Säugling. Sie schliefen manchmal unter freiem Himmel. Wochenlang kauerten sie mit Dutzenden anderen Flüchtlingen in einer Höhle. Sie presst die Beine zusammen und macht die Schultern schmal - so beengt sei es dort gewesen.

In der Krise hat Merkel die Türkei zu ihrem wichtigsten Partner gemacht

Die Mutter bewundert die deutsche Politikerin Merkel, die in der Flüchtlingskrise nicht nur ihr Herz, sondern auch die Grenzen geöffnet habe. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie der Kanzlerin das Mosaik an diesem Samstag gerne persönlich als Geschenk überreicht. Aber daraus wird nichts. Büşra Seyhali sitzt im türkischen Flüchtlingscamp Öncüpınar an der Grenze zu Syrien fest. Und Merkels geplanter Besuch hier - Premier Ahmet Davutoğlu hatte ihn bereits angekündigt - kam nicht über die Planungsphase hinaus.

Eigentlich wäre es ein guter Zeitpunkt gewesen, dass sich die beiden Frauen kennenlernen. Merkel hat die Türkei zu ihrem wichtigsten Partner bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gemacht. Seit bald zwei Wochen gilt ein Pakt zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Die ersten Flüchtlinge aus türkischen Lagern sind mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen. Sie mussten sich nicht mehr skrupellosen Schleusern ausliefern - das ist Teil des Deals. Der hoffnungsvolle Teil.

Aber Kilis ist im Moment kein guter Ort für die Kanzlerin. Seit Tagen schlagen Raketen aus Syrien auf türkischer Seite ein. Kilis ist jetzt Kampfzone. Und dann dürfte natürlich eine Rolle spielen, dass in Deutschland der Satiriker Jan Böhmermann gerade kein so hübsches Mosaik von Recep Tayyip Erdoğan gefertigt hat, sondern mit seinem Schmähgedicht ein so hässliches Bild des Staatschefs gezeichnet hat, dass die Kanzlerin daheim um den Stellenwert der Meinungs- und Kunstfreiheit in Deutschland ringen muss. Denn Erdoğan will Böhmermann bestraft sehen.

Im schlimmsten Fall könnte der Flüchtlingsdeal aus einer Kränkung heraus platzen. Das wäre eine Katastrophe. Denn in Kilis lernt man, dass die Türkei ein engagierter und verlässlicher Partner in der Krise sein kann - wenn das Land nur will.

Fast drei Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge hat die Türkei nach eigenen Angaben aufgenommen. Ein Zehntel von ihnen lebt in den 25 Camps entlang der türkisch-syrischen Grenze. Die Stadt Kilis hat gleich zwei davon: eines am Grenzübergang Öncüpınar mit Platz für demnächst bis zu 20 000 Flüchtlingen. Und ein noch größeres Camp, 30 Kilometer von der Provinzhauptstadt entfernt. Mitten im Nichts ist vor drei Jahren eine Flüchtlingsstadt mit fast 25 000 Migranten entstanden, umgeben von einer Mauer.

Beide Camps kann man in diesen Tagen als Vorzeige-Lager bezeichnen. Sie riechen nach Putzmitteln und sind aufgeräumter und besser organisiert als manches deutsche Lager. Kein Vergleich zu den griechischen Notunterkünften, denen man oft das Elend von Außen schon ansieht. Sie würden gar nicht funktionieren, wenn nicht internationale Hilfsorganisationen sich so reinhängen würden. In der Türkei ist das anders. Dort betreibt die Katastrophenschutzbehörde Afad die Lager. Der Staat gibt sich nicht die Blöße, Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen.

Büşra Seyhalis Wohnanschrift lautet D3-Sokak 2-12. Der jüngste Sohn, vier Jahre alt, geht in den Kindergarten. Der ist in einem in Schnellbauweise errichteten zweistöckigen Schulgebäude untergebracht. An den Wänden sind so viele Garfields und Tom & Jerrys gemalt, dass man sich selbst wie im Comic fühlt. "Das sind Kinder des Krieges", sagt Mustafa Çakir, einer von 200 Lehrern allein in diesem Camp. Die Kinder sollen es gut haben.

Büşra Seyhali sagt, ihr fehle nichts. Außer Syrien.

Manche kennen gar nichts anderes. Seitdem es dieses Lager gibt, sind allein hier 2000 Kinder zur Welt gekommen. An drei Tagen die Woche haben Geburtsärzte Sprechstunde. Kleinere Operationen führen die Mediziner in der eigenen Klinik durch. In den höheren Klassen sitzen 50 Schüler zusammen. Unterricht gibt es morgens und nachmittags. In einer eigenen Sprachschule können sich syrische Flüchtlinge auf den Besuch türkischer Universitäten vorbereiten. Auch an Einzelbetreuung für behinderte Kinder haben die Behörden gedacht.

Büşra Seyhali lebt seit dreieinhalb Jahren im Camp. Der Ort, der Anfangs Zuflucht war, strukturiert heute ihren Alltag. Sie und ihr Mann gehen in den Werkstätten arbeiten. Sie gehören zu den Glücklichen, die nicht jeden Morgen den Bus in den Stadt nehmen müssen, wenn sie sich etwas dazuverdienen wollen. Jeder Flüchtling bekommt eine Geldkarte, um im Supermarkt Lebensmittel einkaufen zu können: umgerechnet fast 30 Euro pro Person im Monat. Das reicht für das Nötigste.

Büşra Seyhali sagt, ihr fehle nichts. Fast nichts - außer Syrien. Aber sie kann den Krieg auf der anderen Seite der Grenze hören. Sie muss noch bleiben.

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Quelle:
SZ vom 14.04.2016/jly
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