Süddeutsche Zeitung

Türkischer Staatschef Erdoğan:Wahlkampf eines Verzweifelten

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Was glaubt dieser Mann eigentlich, wer er ist? Staatspräsident zu sein, so wie die Verfassung das Amt definiert, genügt Recep Tayyip Erdoğan jedenfalls nicht. Deshalb keilt er gegen Kritiker und mischt sich in den türkischen Parlamentswahlkampf ein. Ein Trauerspiel.

Kommentar von Mike Szymanski

Im türkischen Parlamentswahlkampf werden durchaus wichtige Fragen verhandelt. Eine davon lautet: "Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?" Diese Frage kommt von höchster Stelle, vom Präsidenten persönlich. Anhören mussten sie sich jetzt die Journalisten der New York Times. Die Zeitung hatte schlecht über Recep Tayyip Erdoğan geschrieben. Es ging darum, wie Erdoğan und seine islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die AKP, regierungskritische Medien zum Schweigen zu bringen versuchen.

Nun sollte man als Journalist generell nicht zu empfindlich sein. In der Türkei landet man aber für Kritik an Erdoğan mittlerweile schnell im Gefängnis oder hat als Medienunternehmer die Steuerbehörden im Haus. Die AKP duldet nur noch die Presse, die sie selbst finanziert. Alles, was nicht Applaus ist, empfindet sie als Beleidigung. Neulich wollte ein Staatsanwalt kritischen türkischen Sendern den Zugang zu staatlich kontrollierten Satelliten sperren lassen. So weit ist es in diesem Land wieder gekommen, das schon auf der Schwelle zum EU-Beitritt stand - und dann wieder kehrtgemacht hat.

Der Präsident will mehr Macht - und kämpft vehement darum

Seit 2002 regiert die AKP die Türkei mit absoluter Mehrheit. Auch wenn die Wirtschaft zurzeit schwächelt, dem Land geht es ökonomisch spürbar besser. Als sich Recep Tayyip Erdoğan vor einem Jahr vom Volk zum Staatspräsidenten wählen ließ, bekam er eindrucksvolle 52 Prozent der Stimmen. Ein solcher Politiker müsste eigentlich gelassen und distanziert das Geschehen verfolgen. Und nichts anderes verlangt das Präsidentenamt von ihm. Es verpflichtet ihn sogar zur Zurückhaltung. Aber Erdoğan zeigt keinen Respekt davor. Der 61-Jährige führt den Wahlkampf eines Verzweifelten.

Die politische Konkurrenz erklärt er zu Staatsfeinden. Auf Mitarbeiter und Büros der prokurdischen HDP wurden schon mehr als 100 Anschläge verübt, so vergiftet ist das Klima. Bereits genehmigte Kundgebungen anderer Parteien werden von den Behörden abgesagt. Wenn Präsident Erdoğan oder die AKP einen Platz beanspruchen, müssen die anderen Platz machen. Das Jubelpublikum rekrutiert dann der Verwaltungsapparat, den hat sich die AKP längst zur Beute gemacht: Staatsbedienstete werden mehr oder weniger freiwillig zu den Auftritten chauffiert. In Istanbul holte die Partei Tausende Anhänger mit Bussen und Schiffen ab und brachte sie zur Kundgebung. Im türkischen Fernsehen darf Erdoğan auf Sendung sein, wann immer und wie lange er will, während Oppositionspolitiker um jede Minute betteln müssen. Die oberste Wahlaufsicht findet das alles nicht beanstandenswert. Auch sie ist Teil des Systems Erdoğan.

Was glaubt dieser Mann eigentlich, wer er ist? Staatspräsident zu sein, so wie die Verfassung das Amt definiert, genügt ihm jedenfalls nicht. Sein Land soll ein "Präsidialsystem türkischer Art" bekommen. Zuschauen langweilt Erdoğan, er will führen. Er will sich formal, per Verfassungsänderung zum absoluten Herrscher machen. Faktisch agiert er schon so.

Doch um die Verfassung zu ändern, braucht er 367 der 550 Sitze im Parlament. 330 Sitze würden ausreichen, um den Plan den Türken zum Referendum vorzulegen. Beides erscheint im Moment schwer erreichbar. 2011 kam die AKP auf fast 50 Prozent der Stimmen und schickte 327 Abgeordnete ins Parlament. Glaubt man den Umfragen, ist die Partei heute nicht so gut in Form wie 2011. Manche Institute sehen sie auf 40 Prozent abrutschen, die Alleinregierung in Gefahr.

1,14 Milliarden Euro gelten als "Peanuts"

Erdoğan kämpft wie kein anderer in der AKP für den Erfolg. Wirklich populär ist das Präsidialsystem in der Bevölkerung nicht. Es ist den Leuten schwer zu vermitteln, warum eine Partei, die seit 2002 allein regiert und wirklich genug Macht hatte, nun für einen einzelnen Mann noch mehr Einfluss beansprucht.

Die AKP, die 2002 noch als Modernisierungsbewegung angetreten ist und Strömungen aus dem ganzen Land vereinte, gibt es heute so nicht mehr. Erdoğan hat sie auf sich ausgerichtet. Im Erdoğan-Land hat nur noch Erdoğan das Sagen. Mit neuen, harten Polizeigesetzen lässt er jeden Protest unterdrücken. "Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid" - auch sein Volk kann sich angesprochen fühlen.

Sein Präsidentenpalast in Ankara ist zwar geeignet, die angestrebte Machtfülle zu repräsentieren. Der 400 Millionen Euro teure Bau ist auf der anderen Seite aber auch Ausdruck für die neue Abgehobenheit. Jährliche Ausgaben für Dienstwagen der Regierung von 1,14 Milliarden Euro gelten nur noch als "Peanuts".

In seiner Maßlosigkeit hat Erdoğan die Wahl zur Abstimmung über sich gemacht. Egal ob er daraus als Superpräsident oder Verlierer hervorgeht, Erdoğan wird keine Ruhe geben.

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Quelle:
SZ vom 29.05.2015
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