Süddeutsche Zeitung

Türkischer Premierminister Erdogan:Diener seiner Macht

Recep Tayyip Erdogan hat seit seinem Amtsantritt vor elf Jahren die Türkei in das 21. Jahrhundert katapultiert. Doch das Blatt wendet sich: Selbst seinen eigenen Leuten ist der Premier mittlerweile zu autoritär und beratungsresistent. Hinzu kommt, dass sich viele Türken sorgen, die Regierungspartei AKP wolle der gesamten Gesellschaft ihren konservativ-sunnitischen Stempel aufdrücken.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer

Diener sei er und nicht Diktator, versichert der türkische Regierungschef immer wieder, seit der Protest in seinem Land eskaliert. Und weil Recep Tayyip Erdogan gerne bildhaft formuliert, fügt er hinzu: In meinen Adern fließt kein Diktatorenblut. Im sunnitischen Islam, dem Erdogan angehört, spielt der Begriff "Hizmet", der Dienst an der Gemeinschaft, eine große Rolle. Vielleicht benützt Erdogan deshalb den Begriff so gern. Nur: Der Premier hat sich entschieden, wem er dienen will und wem nicht. Damit beginnt das Problem mit der türkischen Demokratie.

Erdogan handelt nach dem Prinzip: einmal Mehrheit, immer Mehrheit. 50 Prozent der Wähler haben seiner konservativ-islamischen AK-Partei bei der bisher letzten Parlamentswahl 2011 ihre Stimme gegeben - der dritte Wahlsieg in Folge. Keine andere Partei hat dies in der 90-jährigen Geschichte der Türkischen Republik geschafft. In den elf Jahren an der Macht ist Erdogan viel gelungen. Er hat die Türkei ins 21. Jahrhundert katapultiert, das Land geöffnet für Kulturen und Kapital aus aller Welt. Die Türkei ist heute reicher und weltläufiger als vor einer Dekade.

Der Regierungschef aber nutzt dieses politische Kapital nun für ein großes Missverständnis. Besser könnte Erdogan dies kaum zeigen als mit seinem jüngsten Vorschlag zur Bebauung des zum Symbol gewordenen kleinen Gezi-Parks im Herzen von Istanbul, direkt neben dem zentralen Taksim-Platz, wo sich die Revolte erst gegen die Entwurzelung der Bäume und dann gegen den Regierungschef richtete. Wenn die Leute dort kein Einkaufszentrum wollten, werde er eben eine Moschee bauen lassen, verkündete Erdogan in den Schlachtenlärm hinein. Die Erlaubnis der Opposition dafür brauche er nicht, das Wählervotum für die AKP genüge. Mehr Öl hätte Erdogan kaum ins Feuer gießen können.

Denn damit treibt der Premier den Keil nur tiefer in die Gesellschaft. Einen beachtlichen Teil der Türken plagt schon länger die Sorge, die AKP verstehe Religionsfreiheit doch eher als Freibrief, der gesamten Gesellschaft ihren konservativ-sunnitischen Stempel aufzudrücken - mit einem Alkoholgesetz, das verlangt, dass jede Bierflasche im Fernsehen gepixelt wird, mit Moral-Ermahnungen in der U-Bahn von Ankara, mit Vorschriften zum Lippenstiftgebrauch von Stewardessen der Turkish Airlines. Frauen in Regierungsbehörden berichten, wo früher ein kurzer Rock der Karriere förderlich war, ist es jetzt eher ein langer. In der Schwarzmeer-Stadt Trabzon denken die Religiösen ernsthaft daran, die dortige Hagia Sophia aus dem 13. Jahrhundert, die schon lange keine Kirche mehr, sondern ein Museum ist, in eine Moschee umzuwandeln, wofür die wertvollen Fresken mit Vorhängen verdeckt werden müssten. Nicht nur Antikenwächter sind entsetzt.

Selbst in der Regierungspartei dämmert es einigen, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Die Kritik am Regierungschef aus den eigenen Reihen kommt zwar noch auf leisen Sohlen daher. Aber man spürt: Der Lack ist ab, die große Liebe zu Erdogan verflogen. Der Premier ist selbst den eigenen Leuten mittlerweile zu autoritär, zu beratungsresistent. Dass er die Verfassung ändern will, um 2014 Präsident werden zu können, billigen nicht alle in der AKP. Diese Kritiker dürften bald lauter werden. Denn nächstes Jahr wird auch in den Kommunen gewählt, und da könnte eine für Kompromisse unempfindliche AKP gar Istanbul verlieren. Das wäre wohl der Anfang vom Ende des Mythos der Erdogan-Partei.

Das gefährlichste Treibmittel für eine Eskalation auf den Straßen aber ist die Brutalität der türkischen Polizei. Es ist eine Gewalt, die Wut und damit Gegengewalt geradezu provoziert. Provokateure könnten in einem solchen Klima versuchen, friedliche Demonstrationen zu kapern. Das hat in der Türkei leider Tradition, ebenso wie die Suche nach Sündenböcken. Erdogan will schon die Geheimdienste beauftragen, angebliche Drahtzieher aus dem Ausland aufzuspüren.

Die größte Oppositionspartei in der Türkei - die säkulare, linke und nicht selten ziemlich nationalistische CHP - war in der vergangenen Dekade zumeist schwach und ideenlos. Das war Erdogans politische Lebensversicherung. Die CHP dürfte jedoch in einem heißen türkischen Sommer an Stärke gewinnen, schon weil es sonst kein Alternativen zur AKP gibt.

Noch vor einer Woche war die Türkei mit einem ganz anderen inneren Konflikt beschäftigt. Erdogans Bemühungen, den 30-jährigen, blutigen Kurden-Krieg im Land friedlich zu beenden, zeigten erstaunliche Erfolge. Es wäre ein historisches Unglück, wenn diese Initiative im aktuellen Aufstand untergehen würde. Am Montag sind in Istanbul die Börsen eingebrochen. Der Tumult in der Türkei verunsichert auch die Anleger. Womöglich ist dies die Sprache, die Erdogan am besten versteht.

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SZ vom 04.06.2013/dgr
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