Süddeutsche Zeitung

Türkischer Militärcoup von 1980:Ankara klagt Putschisten an

Mehr als 30 Jahre nach dem Putsch in der Türkei sollen Ex-Generäle um den früheren Staatspräsidenten Kenan Evren vor Gericht gestellt werden - während der Militärherrschaft waren 350 Menschen zu Tode gekommen. Der aktuelle Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu soll sich ebenfalls verantworten. Wegen Beleidigung der Justiz.

Christiane Schlötzer

Mehr als 30 Jahre nach dem letzten blutigen Militärputsch in der Türkei sollen sich die verantwortlichen Generäle einem Prozess stellen. Ein Gericht in Ankara hat am Dienstag die Anklage gegen den früheren Chef der Militärführung und späteren Staatspräsidenten, Kenan Evren, zugelassen. Evren, 94, war lange Zeit durch die Verfassung vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt.

Mit einer Verfassungsänderung im September 2010 ist diese Immunität entfallen. Seitdem hatten Opfer der Militärherrschaft auf eine Anklage gedrängt. Mit Evren soll auch der 86-jährige Ex-Luftwaffen-General Tahsin Sahinkaya, vor Gericht. Die Anklage verlangt lebenslänglich für die beiden hochbetagten Männer.

Der Militärcoup vom 12. September 1980 war der blutigste in der Geschichte der modernen Türkei. 650 000 Menschen wurden festgenommen, von 1 683 000 Türken legten die Sicherheitskräfte Akten an. 230 000 Menschen wurden angeklagt, 517 zum Tod verurteilt, 50 exekutiert.

300 starben unter ungeklärten Umständen in Gefängnissen, viele durch Folter. Tausende flohen aus dem Land, danach wurde ihnen die Staatsbürgerschaft aberkannt. Die Generäle schrieben eine neue Verfassung, deren autoritäre Züge die Türkei tief geprägt haben.

Bei seiner Vernehmung durch den Staatsanwalt sagte Evren türkischen Medien zufolge: "Ich bereue nichts." Wegen bürgerkriegsähnlicher Zustände vor dem Coup hätten die Generäle die Macht übernehmen müssen. "Das Parlament hat nicht funktioniert. Jeden Tag wurden 10 bis 20 Menschen getötet", sagte Evren.

Vor dem Putsch herrschte in der Tat politisches Chaos, es gab Straßenkämpfe zwischen rechten und linken Gruppen, weshalb zahlreiche Türken den Coup zunächst begrüßten. Das Militär verlor aber bald jedes Maß und Ziel.

Im Vergleich zu der historischen Anklage gegen Evren, der bis 1989 auch Staatspräsident war, wirkt der Vorstoß der Staatsanwaltschaft von Silivri gegen Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu wie eine politische Farce. Der hatte zwei inhaftierte Mitglieder seiner Partei CHP im Gefängnis von Silivri besucht und die Haftanstalt danach mit einem "Konzentrationslager" verglichen.

Die beiden sitzen seit rund drei Jahren ohne Urteil ein, unter dem Vorwurf, einen Umsturz der Regierung mitgeplant zu haben. Die verantwortlichen Richter könne er nicht "Richter" nennen, sagte Kilicdaroglu. Die Staatsanwaltschaft verlangt, die Immunität des CHP-Chefs aufzuheben, wegen Beleidigung der Justiz. Das EU-Parlament kritisiert in einem aktuellen Bericht erneut die oft extrem lange Untersuchungshaft in der Türkei.

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Quelle:
SZ vom 11.01.2012/mkoh
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