Türkische Oppositionspartei CHP:Atatürks Zwitterpartei

Türkische Oppositionspartei

Anhänger der türkischen Oppositionspartei CHP und ihres Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu am 2014 in Essen auf einer Wahlkampfveranstaltung.

(Foto: dpa)

Die CH-Partei von Staatsgründer Kemal Atatürk konnte sich nicht entscheiden, ob sie auf Sozialdemokratie oder auf Nationalismus setzt. Ein Buch zeigt, wie diese Entwicklung der Partei schadete - und dem türkischen Staatschef Erdogan nutzt.

Von Luisa Seeling

Wer sich mit der türkischen Parteienlandschaft befasst, stößt auf ein Problem: Bestimmte Begriffe des politischen Spektrums sind irreführend. Die Konservativen, zum Beispiel: Sind das nun die frommen Politiker der Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP), die das osmanische Erbe der Türkei wiederbeleben wollen? Oder sind es die Kemalisten, die den Laizismus erbittert gegen vermeintliche und echte Islamisierungsversuche verteidigen?

Und wenn die republikanische Volkspartei CHP, die größte und traditionsreichste Oppositionspartei, sich als sozialdemokratische Kraft des Landes versteht - warum wählen dann der Mittelstand und die ärmeren Bevölkerungsschichten massenhaft AKP, während die CHP eine Wahl nach der anderen verliert? Im August konnte die AKP die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden: Recep Tayyip Erdoğan, der langjährige Regierungschef, wechselte in das höchste Staatsamt.

Dass die AKP so stark ist, liegt auch daran, dass die CHP schwach ist. Warum sie schwach ist, darauf gibt das Buch des Politikwissenschaftlers Yunus Emre einige Antworten, das bisher leider nur auf Englisch vorliegt. Übersetzt heißt es ungefähr: "Die Entstehung der Sozialdemokratie in der Türkei". Das Buch basiert auf Emres Promotionsschrift. Der Autor konzentriert sich auf den sozialdemokratischen Flügel der CHP in den Sechzigerjahren. Akribisch wertet Emre eine Fülle von historischen Dokumenten aus; anhand exemplarischer Debatten - etwa über die große Landreform oder den Anti-Amerikanismus - zeigt er, wie sozialdemokratische Positionen in der Türkei Einzug hielten.

Gegründet wurde die CHP, die Cumhuriyet Halk Partisi, 1923 vom Staatsgründer und ersten Präsidenten der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk. Bis 1945 war sie die prägende Kraft im Einparteienstaat, bis 1950 war sie Regierungspartei, und immer war sie dezidiert antilinks: Der Kemalismus, die auf sechs Pfeilern beruhende Staatsideologie Atatürks (darunter Laizismus und Nationalismus), sollte keine Klassenunterschiede kennen - nur die Einheit der Nation. Klassenbasierte Organisationen waren bis 1947 verboten, sozialistische Gruppen blieben sogar bis in die Sechzigerjahre illegal. Emre beschreibt, wie die CHP mit der Konkurrenz durch andere Parteien unter Druck geriet: Sie musste eine attraktive Botschaft für die Massen finden.

Von 1966 an begann die Partei unter dem Generalsekretär und späteren Vorsitzenden Bülent Ecevit, neue Ideen aufzugreifen. Ecevit wandte sich sozialdemokratischen Positionen zu, wobei er nicht von Sozialdemokratie sprach, sondern den Ausdruck "links der Mitte" bevorzugte. Die türkische Gesellschaft war in jenen Jahren im Wandel, Arbeiterorganisationen und linke Parteien gewannen an Einfluss, und in dem Maße wurde auch der reformistische Flügel der CHP gestärkt.

Emre konzentriert sich auf die Sechzigerjahre, doch das, was er analysiert, ist grundlegend bis heute: Wie die beiden Pole, der kemalistisch-nationalistische und der sozialdemokratische, die CHP prägen; wie die Partei oszilliert zwischen linken Positionen und dem Erbe des nationalistischen Einparteienstaats. Wer das Buch liest, wird die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre und das schlechte Abschneiden der Opposition besser verstehen.

Auf die Sozialdemokratisierung der CHP in den Sechzigern folgte später ein Rechtsruck unter dem Vorsitzenden Deniz Baykal, der das Amt 1992 bis 2010 innehatte. Mit ihm wandte sich die Partei ab von ihren sozialdemokratischen Positionen und rückte näher an das rechte Lager als je zuvor. Der Kampf für Gewerkschaftsrechte, demokratische Mitbestimmung und den Ausgleich mit Minderheiten geriet in den Hintergrund. Die Partei betonte wieder stärker Nationalismus und Laizismus, die Verbindung zur Arbeiterklasse wurde brüchig. So ergab sich eine Lücke, die Erdoğans AKP zu füllen wusste. Bis heute zahlt die CHP den Preis dafür, dass sie sich von ihren sozialdemokratischen Zielen abgewandt hat. Mit Kemal Kılıçdaroğlu hat die Partei seit 2010 zwar einen Vorsitzenden, der sie wieder stärker nach links führt; so will die CHP jene ansprechen, die von Erdoğans neoliberaler Politik nicht profitiert haben. Doch die Doppelidentität als sozialdemokratische und kemalistische Partei, deren Ursprung Yunus Emre beschreibt, wirkt fort.

Yunus Emre: The Emergence of Social Democracy in Turkey: The Left and the Transformation of the Republican People's Party. I.B. Tauris, London 2014. 365 Seiten, 62 Britische Pfund.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: