Türkische Nato-Soldaten:"Wenn du westliche Werte hast, wirst du zur Zielscheibe"

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"Sie kennen uns": Etwa Hundert türkische Soldaten und Angehörige haben Asyl in Belgien beantragt. Archivbild: Absolventen einer Militärakademie in Istanbul. (Foto: AFP)

Sie wollen ihren Namen nicht öffentlich nennen, verstecken sich, manche sind krank oder in Geldnot: Wie es türkischen Nato-Soldaten und ihren Familien ergeht, die plötzlich auf Terrorlisten aus Ankara stehen.

Von Lena Kampf und Andreas Spinrath

Die Türkei stellt die zweitgrößte Armee in der Nato, einige Dutzend türkische Offiziere sind in Belgien stationiert, dem Sitz des Nato-Hauptquartiers. Nach dem gescheiterten Militärputsch hat sie die Regierung in Ankara bis auf wenige Ausnahmen ausgetauscht. Hochrangigen Offizieren wird vorgeworfen, den Coup geplant zu haben. Viele derjenigen, die zurückbeordert wurden, sitzen heute in Haft. Etwa 100 Soldaten und Angehörige von ihnen haben in Belgien Asyl beantragt und warten auf eine Entscheidung. Einige treffen sich regelmäßig zu einer Art Stammtisch in Brüssel. Reporter von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR haben dort mit ihnen gesprochen. Die Gestrandeten wollen anonym bleiben, aus Angst vor Repressionen gegen Angehörige in der Türkei. Die SZ dokumentiert ihre Erlebnisse in Protokollen:

Luftwaffenoffizier, seit vier Jahren in Belgien stationiert

Die türkische Armee schickt nur die Besten zur Nato. Alle hier sind unter den ersten fünf Prozent ihres Jahrgangs. Ich erzähle das nicht, um anzugeben, sondern um zu erklären, welche Leute hier sitzen. Am Abend des Coups verstand ich einfach nicht, was los war. Erst als der Präsident sich im Fernsehen äußerte, wusste ich, dass er diese Gelegenheit nutzen würde, um nun auch das Militär in seinem Sinne umzubauen.

Kurz darauf wurden links und rechts Leute entfernt, ihre Namen erschienen auf Listen, die aus Ankara nach Belgien geschickt wurden. Wir waren alle in einem Zustand der Angst gefangen: Warum sind diese Namen auf den Listen? Was sollen die Kollegen gemacht haben? Alle saßen nur da und haben auf die nächsten Listen gewartet. Irgendwann war es soweit: Ich solle zurückkommen, weil es Ermittlungen gegen mich gebe. Warum ich nicht zurückgegangen bin? Weil die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist. Erst vor einem unabhängigen Richter kann ich meine Unschuld beweisen.

Ich habe mir letztens einmal meine Abschlussklasse der Militärakademie angeschaut. Von 50 ist nur etwa ein Dutzend nicht entlassen worden. Sie schlagen und sie foltern, verstecken es nicht einmal, es ist überall im Fernsehen. Uns hier in Belgien verweigern sie die Arbeitszeugnisse, ich bekomme auch keinen Nachweis über meine Flugstunden. Ohne die Dokumente kann ich mich nirgendwo als ziviler Pilot bewerben.

Unsere Nachbarn hier in Belgien sind auch Türken. Sie grüßen uns nicht mehr. Wir versuchen, unsere Kinder von allem fernzuhalten, aber es ist schwer. Meine kleine Tochter hat vor ein paar Tagen plötzlich am Abendbrottisch gefragt: "Papa, werden die Männer im Gefängnis geschlagen?" Meine Frau und ich waren wie erstarrt. Wir hätten nie gedacht, dass sie das alles versteht.

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Aus Angst vor Gefängnis und Folter wollen sie nicht in die Türkei zurückkehren. Politisch gesehen ist der Zeitpunkt heikel.

Lehrerin, Frau eines Luftwaffenoffiziers, seit drei Jahren in Belgien stationiert

Eine Woche nach dem Coup, an einem Freitag, kam die erste Liste mit Namen geschasster Soldaten, viele davon unsere Freunde. Danach kamen jeden Freitag Listen. Ich habe sie "Schwarze Freitage" genannt. Im September war der Name meines Mannes dabei. Da hatten sie schon einige der Ersten verhaftet, die zurückgegangen waren. Wir haben jetzt neue Telefonnummern, sind umgezogen. Manchmal frage ich mich: Ist das ein Traum? Der Name meines Mannes auf einer Terrorliste?

Frau eines Luftwaffenoffiziers, seit dreieinhalb Jahren in Belgien stationiert

Wir waren kurz davor, in die Türkei zurückzukehren. Der Dienst meines Mannes war fast beendet, alle unsere Möbel waren schon unten. Dann passierte der Coup. Mein Mann war ja Jahre nicht in der Türkei stationiert gewesen, also kann er gar nichts damit zu tun gehabt haben. Doch dann durfte er plötzlich das Nato-Gebäude nicht mehr betreten.

Sein Arzt hat ihn für drei Monate krankgeschrieben, weil er sich nicht mehr konzentrieren konnte, nicht einmal mehr beim Autofahren. Er schrieb viele Briefe nach Ankara: "Was werft ihr mir vor?", fragte er. Aber wir haben nie eine Antwort erhalten. Es war so leicht für sie, uns loszuwerden. Sie haben einfach unsere Namen auf eine Liste geschrieben.

Mit unseren Kindern sind wir in eine Gegend in Belgien gezogen, in der es kaum türkischstämmige Menschen gibt. Sogar unsere Familien wissen nicht, wo wir jetzt wohnen. Das Haus meiner Eltern in der Türkei wurde schon zweimal durchsucht. Unsere Kinder haben Angst, auf der Straße Türkisch zu sprechen. Wenn sie etwas nicht in Englisch ausdrücken können, schweigen sie.

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Oberst, seit drei Jahren in Belgien stationiert

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Nach den ersten Säuberungswellen ist uns klar geworden, wen man loswerden wollte: Wir sind alle in Europa und in den USA ausgebildet worden. Wir teilen Erdoğans Vision nicht. Wir hätten das niemals öffentlich gesagt, weil wir Militärs sind, aber sie kennen uns. Wenn du westliche Werte hast, wirst du zur Zielscheibe. Erdoğan nennt uns "türkische Terroristen in der Nato". Unsere Pässe sind für ungültig erklärt worden. Wir hatten Diplomatenpässe. Ein Kollege, der vor wenigen Monaten ein Kind bekommen hat, erhält nicht mal eine Geburtsurkunde für die Kleine in der Botschaft. Wir glauben, dass die freigewordenen Stellen mit Regimegetreuen besetzt werden, die uns hier weiter beobachten sollen. Die Namen derjenigen, die in Belgien Asyl beantragt haben, haben die Neuen nach Ankara geschickt. Die Botschaft ist deutlich: Fühlt euch nicht mehr sicher.

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Heeresoffizier, seit 2015 in Brüssel stationiert

Am Abend des Coups wollte ich einen Mercedes kaufen. Dann kamen die Nachrichten. Heute sind 90 Prozent der Generalstabsoffiziere ausgetauscht. Was mich am meisten getroffen hat, ist die Art, wie mit uns umgegangen wurde. Ich meine, normalerweise sollte man einen versiegelten Brief bekommen, wenn es Probleme gibt. Stattdessen standen alle Namen öffentlich auf einer Liste. Es war so beschämend. Ich wollte erst auf jeden Fall zurück gehen, um zu zeigen, dass ich unschuldig bin. In so einer Situation bist du darauf angewiesen, dass andere zu dir halten. Wir teilen unsere Sorgen und Gedanken in dieser Gruppe. Die Familien haben unterschiedlich viel gespart, also wenn jemand in Not ist, helfen wir uns auch finanziell. Gut, dass wir den Mercedes nicht gekauft haben.

Frau eines Marineoffiziers, im Sommer erkrankte sie schwer

Wir waren mit der Familie gerade aus dem Urlaub in der Türkei zurück. Anfang August kam die Liste, auf der mein Mann war. Genau zur gleichen Zeit wurde eine schwere Erkrankung bei mir diagnostiziert. Ich musste eine teure Behandlung beginnen. Wir erfuhren, dass sich die Armee weigerte, die Kosten zu übernehmen, solange wir in Belgien sind. Also wägten wir ab: Können wir uns die Behandlung hier leisten, oder nehmen wir in Kauf, dass mein Mann in der Türkei ins Gefängnis geht?

Marineoffizier, seit zwei Jahren in Belgien stationiert, verheiratet mit der erkrankten Frau

Per Dekret sind wir seit November alle offiziell aus der Armee entlassen. Jetzt bin ich ohne Job. Ohne Gehalt. Wir versuchen uns, an die neue Situation zu gewöhnen.

Natürlich ist es möglich, dass Belgien unseren Asylantrag zurückweist. Aber wir glauben, dass Europa immer noch demokratische Werte hat. Wir wissen nicht, was als nächstes kommt. Im schlimmsten Fall müssen wir zurück in die Türkei. Was dann passiert, weiß niemand.

© SZ vom 09.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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