Die Türkei stellt die zweitgrößte Armee in der Nato, einige Dutzend türkische Offiziere sind in Belgien stationiert, dem Sitz des Nato-Hauptquartiers. Nach dem gescheiterten Militärputsch hat sie die Regierung in Ankara bis auf wenige Ausnahmen ausgetauscht. Hochrangigen Offizieren wird vorgeworfen, den Coup geplant zu haben. Viele derjenigen, die zurückbeordert wurden, sitzen heute in Haft. Etwa 100 Soldaten und Angehörige von ihnen haben in Belgien Asyl beantragt und warten auf eine Entscheidung. Einige treffen sich regelmäßig zu einer Art Stammtisch in Brüssel. Reporter von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR haben dort mit ihnen gesprochen. Die Gestrandeten wollen anonym bleiben, aus Angst vor Repressionen gegen Angehörige in der Türkei. Die SZ dokumentiert ihre Erlebnisse in Protokollen:
Luftwaffenoffizier, seit vier Jahren in Belgien stationiert
Die türkische Armee schickt nur die Besten zur Nato. Alle hier sind unter den ersten fünf Prozent ihres Jahrgangs. Ich erzähle das nicht, um anzugeben, sondern um zu erklären, welche Leute hier sitzen. Am Abend des Coups verstand ich einfach nicht, was los war. Erst als der Präsident sich im Fernsehen äußerte, wusste ich, dass er diese Gelegenheit nutzen würde, um nun auch das Militär in seinem Sinne umzubauen.
Kurz darauf wurden links und rechts Leute entfernt, ihre Namen erschienen auf Listen, die aus Ankara nach Belgien geschickt wurden. Wir waren alle in einem Zustand der Angst gefangen: Warum sind diese Namen auf den Listen? Was sollen die Kollegen gemacht haben? Alle saßen nur da und haben auf die nächsten Listen gewartet. Irgendwann war es soweit: Ich solle zurückkommen, weil es Ermittlungen gegen mich gebe. Warum ich nicht zurückgegangen bin? Weil die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist. Erst vor einem unabhängigen Richter kann ich meine Unschuld beweisen.
Ich habe mir letztens einmal meine Abschlussklasse der Militärakademie angeschaut. Von 50 ist nur etwa ein Dutzend nicht entlassen worden. Sie schlagen und sie foltern, verstecken es nicht einmal, es ist überall im Fernsehen. Uns hier in Belgien verweigern sie die Arbeitszeugnisse, ich bekomme auch keinen Nachweis über meine Flugstunden. Ohne die Dokumente kann ich mich nirgendwo als ziviler Pilot bewerben.
Unsere Nachbarn hier in Belgien sind auch Türken. Sie grüßen uns nicht mehr. Wir versuchen, unsere Kinder von allem fernzuhalten, aber es ist schwer. Meine kleine Tochter hat vor ein paar Tagen plötzlich am Abendbrottisch gefragt: "Papa, werden die Männer im Gefängnis geschlagen?" Meine Frau und ich waren wie erstarrt. Wir hätten nie gedacht, dass sie das alles versteht.
Lehrerin, Frau eines Luftwaffenoffiziers, seit drei Jahren in Belgien stationiert
Eine Woche nach dem Coup, an einem Freitag, kam die erste Liste mit Namen geschasster Soldaten, viele davon unsere Freunde. Danach kamen jeden Freitag Listen. Ich habe sie "Schwarze Freitage" genannt. Im September war der Name meines Mannes dabei. Da hatten sie schon einige der Ersten verhaftet, die zurückgegangen waren. Wir haben jetzt neue Telefonnummern, sind umgezogen. Manchmal frage ich mich: Ist das ein Traum? Der Name meines Mannes auf einer Terrorliste?