Türkische Innenpolitik:Das Recht in den Händen empörter Erdoğan-Anhänger

*** BESTPIX *** At Least 90 Killed in Attempted Military Coup in Turkey

Erdoğan-Anhänger feiern die Erstürmung eines Panzers in Istanbul

(Foto: Gokhan Tan/Getty Images)
  • Sollte der Vorschlag einer Wiedereinführung der Todesstrafe tatsächlich ins Parlament kommen, dürfte er gute Chancen auf eine Mehrheit haben.
  • Politiker der ultranationalistischen Partei MHP sagen der AKP schon ihre Unterstützung für eine Gesetzesänderung zu.
  • Die Regierung hat am Montag ihre "Säuberungsaktionen" fortgesetzt, die Gefängnisse füllen sich mit Menschen, die als Gegner gelten.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Unglaublich leicht kommen diese zwei Wörter den Leuten auf der Straße über die Lippen: Idam istiyorum! Es ist wie ein Chor, der für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan singt. Er wird immer lauter, immer wütender. Idam istiyorum! Idam istiyorum! Ein Mann ruft: "Ich wünsche es mir von ganzem Herzen." Erdoğan steht mittendrin. Idam istiyorum heißt: "Ich will die Todesstrafe." Auch für Erdoğan ist die Todesstrafe offenbar eine Herzensangelegenheit. Er sagt, sein Herz sage "Ja" zur Todesstrafe. Aber wenn es nicht möglich sei, sie wieder einzuführen, dann wolle er zumindest eine "erschwerte lebenslange Haft" für diejenigen, die das Land am Wochenende ins Unglück gestürzt haben.

Furchtbare Tage liegen hinter diesem Land. In Ankara und Istanbul fühlte sich die Nacht zum Samstag ein paar Stunden an wie Krieg. Es floss viel Blut. Etwa 300 Menschen, unter ihnen viele Zivilisten, sind bei dem Putschversuch wohl umgekommen. Weit mehr als 1000 wurden verletzt. In dieser Nacht müssen sich viele Herzen mit Trauer gefüllt haben, mit Trauer und mit Hass.

Auf der Bosporusbrücke, die den europäischen und asiatischen Teil Istanbuls miteinander verbindet und die stundenlang Ort des Kräftemessens zwischen Putschisten und Regierungskräften war, nehmen empörte Bürger am Samstagmorgen das Recht selbst in die Hand. Mit Eisenstangen und Messern bewaffnet macht sich eine Gruppe Regierungstreuer auf, um die Soldaten zu bestrafen. Hier und jetzt. Kurzer Prozess. Sie töten sechs Soldaten, berichtet die oppositionelle Zeitung Birgün. Sie versuchten offenbar noch, die Leichen von der Brücke zu werfen.

Ereignisse dieser Tage haben Türkei in die Vergangenheit katapultiert

Die Türkei im Jahr 2016, das war kein Land, dem man noch einmal einen Militärputsch zugetraut hätte. Eine Rückkehr zur Todesstrafe genauso wenig. Aber darüber wird jetzt diskutiert. Auf den Straßen des Landes und bald auch im Parlament. Premier Binali Yıldırım hatte sich als einer der Ersten zu Wort gemeldet, da war der Putsch noch nicht einmal ganz unter Kontrolle. Yıldırım sagte, es werde jetzt über "zusätzliche Maßnahmen" diskutiert, die solche "Verrücktheiten" künftig verhindern sollen. Am Montag wird er konkreter. "Es ist nicht richtig, in der Hitze und dem Eifer des Gefechts eine voreilige Entscheidung zu treffen", sagt er. "Aber wir können diese Forderung unserer Bürger nicht ignorieren. Das wird unser Parlament umfangreich bedenken und besprechen."

Die Ereignisse, die Diskussionen dieser Tage haben die Türkei in die Vergangenheit katapultiert. Militärputsch, Todesstrafe - das waren die Achtzigerjahre. Damals hatte Putsch-General Kenan Evren die Macht im Land übernommen und in den folgenden Jahren etwa 50 Menschen exekutieren lassen. Wer mag, kann in der Geschichte noch viel weiter zurückgehen, da wird es noch düsterer. Bis 1965 wurden in Istanbul auf dem weltberühmten Sultanahmet-Platz Verbrecher vor den Augen der Öffentlichkeit hingerichtet. Das ist die Geschichte der Todesstrafe in der Türkei. Der letzte Mensch, der durch ein Todesurteil starb, war der Häftling Hıdır Aslan, ein Linksextremist, der drei Polizisten getötet hatte. Das war im Oktober 1984. Wenn Richter das Todesurteil fällten, dann sagte man, Kalemi kırıldı, "sein Stift ist gebrochen".

Es war Erdoğans Regierung, die dieses Kapitel endgültig geschlossen hatte. In der Geschichte der Türkei haben es die Herrschenden immer wieder verstanden, Teile des eigenen Volkes zu Gegnern zu erklären und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Bevor Erdoğan mit seiner AKP an die Macht kam, hatte er selbst zu spüren bekommen, was es heißt, Staatsfeind zu sein. Er saß selbst im Gefängnis, und das Militär unternahm alles, um seinen Aufstieg zu stoppen.

Deshalb waren das Folterverbot und die vollständige Abschaffung der Todesstrafe - dies geschah im Jahr 2004 - sowie die stufenweise Entmachtung des Militärs auch die ersten großen Projekte seiner jungen Regierung. Der berühmteste Gefangene des Landes profitiert davon. PKK-Führer Abdullah Öcalan, 1999 gefasst, war eigentlich zum Tode verurteilt worden. Die Strafe wurde dann aber in lebenslange Haft umgewandelt.

Damals wollte Erdoğan-Regierung Europa gefallen

Die Türkei hatte keine andere Wahl, sie musste sich reformieren, um europakompatibel zu werden. Damals war das noch ein ehrgeiziges Ziel der Erdoğan-Regierung. Sie wollte Europa gefallen. Am Wochenende aber sagte der Staatspräsident vor seinen Anhängern, die Türkei müsse niemanden fragen, ob sie zur Todesstrafe zurückkehrt oder nicht. Er sagte es nicht, aber es war klar, an wen die Äußerung gerichtet war: Europa.

Sollte der Vorschlag tatsächlich ins Parlament kommen, so dürfte er gute Chancen auf eine Mehrheit haben. Gerade den Abgeordneten steckt die Putschnacht in den Knochen. Die Aufständischen hatten das Parlament in Ankara bombardiert. Abgeordnete zeigen Fotos von Leichen auf der Straße. Die aufständischen Soldaten sind mit äußerster Brutalität vorgegangen. Ein Handy-Video, das im Internet die Runde macht und von Abgeordneten weitergereicht wird, zeigt, wie ein Panzer direkt auf Zivilisten am Straßenrand zusteuert und sie überrollt.

Politiker der ultranationalistischen Partei MHP sagen der AKP schon ihre Unterstützung für eine Gesetzesänderung zu. Die Verfassung müsste geändert werden. Dafür, sagte Yıldırım am Montag, bräuchte die AKP allerdings eine Zweidrittelmehrheit, also Stimmen aus der Opposition.

Es ist Montag, der 18. Juli 2016, als sich der MHP-Abgeordnete Erkan Akçay vor Kameras stellt und einen Stift in der Mitte durchbricht. Kalemi kırıldı. Am Umgang mit den Putschisten vom 15. Juli wird sich zeigen, ob die Türkei noch einen Platz in der EU findet.

Die Regierung hat am Montag ihre "Säuberungsaktionen" fortgesetzt, die Gefängnisse füllen sich mit Menschen, die als Gegner gelten. Erdoğan macht den in den USA lebenden Kleriker Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Dessen Bewegung unterhält in der Türkei ein stattliches Netzwerk an Anhängern in der Verwaltung, in der Justiz, in der Polizei und im Militär. Die Jagd auf mutmaßliche Verräter ist im vollen Gange. 30 Gouverneure wurden von ihren Ämtern entbunden, etwa 8000 Polizisten vom Dienst suspendiert. Nach den Worten Yıldırıms wurden bis Montagmittag 7543 Personen inhaftiert, darunter 6038 Soldaten. Der Staat zeigt keine Gnade. Nicht jetzt.

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