Türkei: Zum Besuch des Bundespräsidenten:Das anatolische Wunder

Die Wirtschaft in der Türkei boomt. Die alten Warnungen vor der Aufnahme eines armen, rückständigen Landes in die EU klingen deshalb von Jahr zu Jahr hohler. Vielleicht muss man sich mehr Sorgen um die EU machen als um die Türkei.

Kai Strittmatter, Istanbul

Kayseri ist ein interessanter Ort. Er liegt in Anatolien. Und zwar haargenau in der Mitte. Von hier sind es nach Westen 900 Kilometer zur Ägäis und nach Osten 900 Kilometer zum Iran. Seit neuestem ist Kayseri Partnerstadt von Krefeld. Bei einem Partnerstadttreffen in diesem Sommer sagte der Bürgermeister erwartungsfroh: "Wir hoffen auf Impulse für unsere Wirtschaft!" Nein, nicht der Bürgermeister von Kayseri sagte das, sondern der von Krefeld, Gregor Kathstede. Ehrfürchtig fügte er an: "Der Wirtschaftsstandort Kayseri nimmt eine atemberaubende Entwicklung." Stimmt. Wie überhaupt das ganze Land sich atemberaubend entwickelt.

EU-Kulturhauptstadt Istanbul

Die alten Warnungen vor der Aufnahme einer armen, rückständigen Türkei in die EU klingen von Jahr zu Jahr hohler: Einkaufsstraße in Istanbul. Die Bosphorus-Brücke in Istanbul.

(Foto: dpa)

Bundespräsident Christian Wulff wird das sehen, wenn er diese Woche die Türkei besucht. Und Kayseri, die Heimatstadt von Präsident Abdullah Gül. Gül wird Wulff am Mittwoch Kayseri zeigen. Man kann in der Stadt eine Menge lernen über die Türkei. Zum Beispiel, wo das neue Selbstbewusstsein herkommt, das die innenpolitische Umwälzung ebenso befeuert wie die neue aktive Außenpolitik des Landes. Es ist ganz einfach: Die Türkei boomt. Seitdem die AKP 2002 an die Macht kam, ist es die Lieblingsbeschäftigung von Beobachtern, die Partei und deren Führer - gläubige Muslime - über ihr Verhältnis zum Islam zu definieren. Dabei ist das Hauptmerkmal der AKP nicht ihre Frömmigkeit, sondern ihre ungebremste Wirtschaftsfreundlichkeit, ihre Lust an Geschäft und Profit.

Für das Land zahlt sich das aus. Das Pro-Kopf-Einkommen der Türken hat sich seit 2002 nominal vervierfacht, auf heute 10000 Dollar im Jahr. Keine Wirtschaft in Europa wuchs im letzten Jahrzehnt so rasant. Im zweiten Quartal dieses Jahres waren es gar 10,3 Prozent Wachstum - so viel wie in China. Die Zahlen werden so hoch nicht bleiben, sie sind auch dem tiefen Niveau der Krisenzeit zuvor geschuldet, erstaunlich sind sie allemal. "Die Türkei ist aus der Krise gestärkt hervorgegangen, nicht geschwächt", sagt Marc Landau, Geschäftsführer der deutsch-türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul. "Der Wandel in der Türkei ist so umfassend", staunte die New York Times, "dass die Türkei heute eher die Kriterien für die Einführung des Euro erfüllen würde als die meisten der gebeutelten Volkswirtschaften, die drin sind in der Eurozone." Die alten Warnungen vor der Aufnahme einer armen, rückständigen Türkei in die EU, sie klingen von Jahr zu Jahr hohler. "Ehrlich gesagt", meint ein Istanbuler Geschäftsmann bei einem Glas Tee am Bosporus, "muss man sich im Moment doch mehr Sorgen um die EU machen als um die Türkei."

Der wirtschaftliche Erfolg hat viele Gründe. Zum einen hatte die Türkei den Absturz ihres Bankensektors schon 2001zu verkraften - und zog mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds IWF die richtigen Lehren daraus, so dass die frisch sanierten Banken die jüngste Krise erstaunlich gut überstanden. Dass die AKP nun schon acht Jahre lang allein regiert, half auch: Politische Stabilität ist ein Novum hier. Die Inflation, die vor zehn Jahren noch mehr als 70 Prozent betrug, wird in diesem Jahr auf nur noch 7,5 Prozent geschätzt. Die Lira ist stabil. Die Regierung ging daran, vormals unantastbare Staatsfirmen zu privatisieren, was Auslandsinvestoren anzog. Und sie entdeckte die Nachbarregionen im Osten als Märkte. "Der Handel mit dem Irak ist explodiert. Und auch Iran ist hochgeschossen als Absatzland", sagt Marc Landau. Auf der Liste der Hauptlieferländer sind Russland und China an Deutschland vorbeigezogen. Auch wenn der meiste Handel weiter mit EU- und OECD-Ländern betrieben werde, meint Landau: "Mit der Dominanz der Deutschen ist es vorbei." Genau diese Diversifizierung hat es der Türkei erlaubt, die Krisenjahre besser zu überstehen.

Für den Export schuften sie auch in Kayseri: Jeansstoffe in die USA, Sofas nach Russland. Aber immer mehr auch für die wachsende Nachfrage der neuen türkischen Mittelschicht. Mehr als drei Viertel der türkischen Möbelproduktion kommen aus Kayseri. Dabei gibt es hier keinen Baum, bloß Fleiß und Unternehmergeist. Im Jahr 2004 bewarben sie sich fürs Guinnessbuch der Rekorde: An einem einzigen Tag legten sie im Industriegebiet von Hacilar die Grundsteine für 139 Betriebe. Innerhalb von nur einer Generation haben sie aus ihrem kleinen Flecken Zentralanatolien einen Schauplatz der Globalisierung gemacht. Die Menschen in Kayseri sind fromm und konservativ - und dabei so geschäftstüchtig, dass die Forscher von der "European Stability Initiative" (ESI) ihnen das Etikett "Islamische Calvinisten" verpassten.

Unternehmer wie die von Kayseri stehen hinter dem Aufstieg der AKP. ESI-Chef Gerald Knaus sagt: "Viele unserer Bilder - die grasende Schafherde, das zwölfjährige Mädchen, das nach fünf Jahren die Schule verlässt und Teppiche knüpft - haben mit der Türkei nichts mehr zu tun. Wulff wird sehen, dass die Modernisierung auch in Zentralanatolien angekommen ist." Was nach Ansicht von Knaus auch einen enormen Einfluss auf Deutschland haben werde: "Wenn es die Importbräute aus Kayseri nicht mehr gibt, wird das ein Schlüssel sein für die Integration der Türken in Deutschland."

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