EU und Türkei:Nähe nützt mehr als Distanz

EU und Türkei: Kanzlerin Merkel und Präsident Erdoğan trafen sich am Samstagmorgen zu einem Arbeitsfrühstück.

Kanzlerin Merkel und Präsident Erdoğan trafen sich am Samstagmorgen zu einem Arbeitsfrühstück.

(Foto: AP)

Die Türkei wollte spätestens 2023 EU-Mitglied sein. Der Traum ist ausgeträumt. Doch auch Europa muss sich von einer Illusion verabschieden.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Spätestens im Jahr 2023 wollte die Türkei Mitglied der EU sein. Dann wird sie 100 Jahre alt. Geht es um Fragen des nationalen Stolzes, wird gern der große historische Bogen bemüht. So muss der neue Flughafen in Istanbul unbedingt zum Nationalfeiertag am 29. Oktober eröffnet werden, auch wenn er noch nicht fertig ist. Und deshalb sollte der Weg, den Republikgründer Kemal Atatürk einst vorgab - immer Richtung Westen -, bis zum Jubiläumsjahr in sein Ziel münden. Aber selbst die Kaffeesatzleser in Istanbul sind nicht so verwegen, dass sie ihren Kunden noch weismachen würden, diese Hoffnung könnte sich erfüllen. Aus der Traum.

Die EU hat, was die Türkei betrifft, ohnehin nie in solch langen Zeiträumen gedacht. Die sogenannten Vorbeitrittshilfen, mehrere Milliarden Euro, die Aufnahmekandidaten für die Gemeinschaft fit machen sollen, sind für Ankara noch bis zum Jahr 2020 eingeplant. Aber die EU-Kommission hat die Mittel soeben kräftig gekürzt, auch zuletzt war schon viel weniger Geld ausbezahlt worden, als eigentlich vorhanden war. Weil es zum Beispiel gar keine Richter mehr gibt, die Ankara im Sinne einer unabhängigen Justiz von der EU fortbilden lassen will.

Der sperrige Begriff Vorbeitrittshilfe sagt, dass es irgendwann einen Beitritt gibt. Wenn der nicht mal im Kaffeesatz zu finden ist, mag es logisch sein, das Geld zu sparen. Ärgerlich nur, dass damit auch diejenigen enttäuscht werden, die sich beispielsweise für die Menschenrechte, die Pressefreiheit oder Umweltschutzprojekte engagiert haben. Ja, auch das gab es. Die EU hat - nicht immer zur Freude Ankaras - auch in die türkische Zivilgesellschaft investiert.

Der Protest aus eben dieser zivilen Gesellschaft gegen die Mittelkürzung dürfte allerdings schwach ausfallen, weil einige ihrer wort- und wirkmächtigen Vertreter im Gefängnis sitzen. Wie der Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala, nun fast schon ein Jahr unter fadenscheinigsten Vorwürfen und bislang ohne Anklage. Kavala gehörte vor fünf Jahren zu den Unterzeichnern eines eindrucksvollen Appells an die deutsche Regierung. Vorausgegangen war die brutale Niederschlagung des Istanbuler Gezi-Aufstands, eines eher bürgerlichen Protests. Der Europäische Rat wollte damals die Türkei bestrafen, durch Vertagung der Verhandlungen zum Kapitel Regionalpolitik. Das klang nicht dramatisch, war aber faktisch als Einfrieren der EU-Gespräche gedacht. In dem Appell schrieben Kavala und seine Mitstreiter: "Wir sind davon überzeugt, dass eine solche Sanktion falsch ist."

Es lohnt sich, diesen Appell noch einmal zu lesen, weil er so aktuell wirkt: "Man sollte Voraussetzungen schaffen, die die Gerechtigkeit begünstigen, gerade in einem Land, wo sie nicht herrscht." Weiter heißt es: "In der Türkei ist die Gerechtigkeit besonders dann geschwunden, nachdem der EU-Prozess verlangsamt wurde." Das ist das Bitterste an der dramatischen Wandlung der Türkei in der jüngeren Vergangenheit, samt Putschversuch und anschließender Repression: Diejenigen, die nicht einverstanden sind mit Recep Tayyip Erdoğans Systemumbau, werden von der EU mitbestraft für die Entdemokratisierung und den Rechtsstaatsabbau, die sie am eigenen Leib erleben.

Die Abschaffung der Visapflicht wäre ein Zeichen

Nur, was soll Europa tun? Auch wenn Erdoğan jetzt in hoher finanzieller Not einen Neustart der Beziehungen zur EU und zu Deutschland verspricht, wird Ankara die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllen. Vor der Verfassungsänderung, die ihm alle Macht gab, behauptete Erdoğan, "die Nation" kenne keine inneren Konflikte, weshalb man auch keine Gewaltenteilung brauche. Das zeigt, der Präsident lebt in seiner eigenen Wirklichkeit, und dabei dürfte es erst einmal bleiben.

Nun gibt es auch andere EU-Staaten, die Präsidenten mit einem ähnlichen Weltbild haben. Das ändert aber nichts daran, dass die Türkei, so wie sie ist, nicht in die EU passt. Daraus folgt aber gerade nicht, dass die EU nun die Türkei ins Abseits stellen kann. Im Gegenteil, es braucht ein alternatives Ziel, jenseits der Mitgliedschaft, und auch jenseits der einst von der CDU/CSU entworfenen privilegierten Partnerschaft. Schon das Wort "privilegiert" wirkt heute aus der Zeit gefallen, nach all den Lasten, die auf dem deutsch-türkischen Verhältnis liegen.

Wenn man nun aber die Polemik der Vergangenheit und den Pomp des Staatsbesuchs hinter sich lässt, dann gäbe es immer noch so etwas wie einen unaufgeregten Pragmatismus im Verhältnis zur Türkei. Als Anwendungsgebiet empfiehlt sich dafür zum Beispiel die Erweiterung der Zollunion. Das würde der ökonomisch bedrängten Türkei helfen und auch der EU nutzen. Dafür müsste die EU aber den Bestrafungsgedanken wegwischen und überlegen, was beiden Seiten nutzt. Auch die lange umkämpfte Visafreiheit würde dazugehören. Dagegen gibt es heftige Widerstände, aber keine einzelne Maßnahme würde das Image Europas, ja des Westens, in der Türkei so aufbessern wie die Abschaffung der Visapflicht, die eine Last für die türkische Wirtschaft ist, aber auch für jede türkische Familie mit Verwandten in Deutschland.

Nach Erdoğans stocksteifem Besuch in Berlin dürfte eine neue Phase der Enttäuschungen beginnen. Weil deutsche Investoren weiter zögern werden, solange sie sich in der Türkei nicht sicher fühlen. Weil Ankara Absurdes erwartet, wie die Auslieferung des Journalisten Can Dündar. Hat der Staatsbesuch dann überhaupt etwas gebracht? Ja. Weil der Dialog jenseits des roten Teppichs dabei helfen kann, Druck auf Ankara aufzubauen. Distanz ist da weniger nützlich. Sie fördert auch nicht das Verständnis für die Nöte des anderen.

2024 gibt es für die Türkei ebenfalls nichts zu feiern, die Fußball-EM wird dann in Deutschland stattfinden und nicht in der Türkei. Dafür wurden gute Gründe genannt: die Lage der Wirtschaft, aber auch die der Menschenrechte. Dass beides miteinander zusammenhängt, sollte man Erdoğan immer wieder sagen.

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