Süddeutsche Zeitung

Türkei:Der türkische Premier wird Interessenverwalter für Erdoğan

  • Auf dem Parteitag in Ankara nimmt Davutoğlu seinen Abschied. Er wirft rote Nelken so leidenschaftlich, wie man ihn noch nie hat rote Nelken werfen sehen.
  • Es ist ein historischer Parteitag am Sonntag in Ankara. Die AKP, die man einmal kannte, schafft sich selbst ab.
  • Von Erdoğanisierung der AKP sprechen die Kommentatoren in der Türkei, weil man sich als Anhänger ja längst nicht mehr mit der Politik identifizieren können muss, sondern mit der Person: Erdoğan.

Von Mike Szymanski, Ankara

Was für ein Abschiedsfest für Ahmet Davutoğlu. Eben noch Chef der AKP, der Machtmaschine des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, und Premierminister. Gleich nichts mehr. Außer einfacher Abgeordneter. Diener des Volkes und des selbsternannten Volksvorsitzenden Erdoğan. Ausgerechnet in dieser merkwürdigen Zwischenzeit hat Davutoğlu seinen größten Moment.

Es ist kurz nach elf am Sonntagvormittag, als Davutoğlu seinen Abschied in der Sportarena in Ankara nehmen darf. Die AKP hat einen blauen Laufsteg errichten lassen, U-förmig geht es an den vollbesetzten Rängen vorbei. Davutoğlu wirft rote Nelken so leidenschaftlich, wie man ihn noch nie hat rote Nelken werfen sehen.

Wer Opfer für diese Partei bringt, wird belohnt. So kommt es, dass die AKP-Funktionäre ein türkisches Lied umgedichtet haben. "Wer ist das, der immer arbeitet? Wer ist das? Wer ist das?", singt die Stimme. Und antwortet: "Davutoğlu!" Das kann man albern finden. Aber die Alternative wäre das Erdoğan-Lied: "Re-cep-Tay-yip-Er-do-ğan". Das ist tatsächlich das Lied, das gespielt wird, als Davutoğlus Nachfolger Binali Yıldırım auf dem Laufsteg die Runde macht. Davutoğlu hat das jetzt hinter sich.

Davutoğlu darf Davutoğlu sein. Erdoğan hat ihn Anfang des Monats erst aus der AKP-Spitze herausgedrängt, den Vorsitz musste er abgeben. Und damit war er auch den Posten des Regierungschefs los. AKP-Gesetz. Davutoğlu war Erdoğan zu eigensinnig geworden. Es kam zu einem Hauch von Machtkampf zwischen den beiden Männern, dann war Davutoğlu schon erledigt.

Dem neuen Premier versagt bereits nach einer Viertelstunde die Stimme

Es ist ein historischer Parteitag am Sonntag in Ankara. Die AKP, die man einmal kannte, schafft sich selbst ab. Die Regierungspartei sucht nach Davutoğlu keinen neuen Chef, sondern einen Interessenverwalter für Erdoğan.

Seit der AKP-Gründer 2014 zum Staatspräsidenten aufgestiegen war, hatte er das politische Tagesgeschäft und die Partei in andere Hände geben müssen. Davutoğlu, langjähriger Berater und später Außenminister in Erdoğans Regierung, schien ihm der geeignete Premier zu sein, bei dem er sein Lebenswerk zwar formal, aber nicht wirklich aus den Händen geben musste. Aus heutiger Sicht mutet es etwas kühn an, in Davutoğlu einen Rebell zu sehen. Er war zwar mit dem Etikett gestartet, Erdoğans Marionette zu sein, hatte sich aber nie richtig unter Kontrolle bringen lassen.

Im vergangenen Jahr wurden die Spannungen sichtbar. Als die AKP bei der Parlamentswahl im Juni ihre absolute Mehrheit verloren hatte, wäre Davutoğlu eine Koalition eingegangen. Aber das ließ Erdoğan nicht zu. Bei Neuwahlen im November holte sich die AKP die ganze Macht zurück. Während Erdoğan jemanden an der Spitze der Regierung wollte, der endlich auch das von ihm ersehnte Präsidialsystem einführt, spielte Davutoğlu auf Zeit. Bis Erdoğan die Geduld mit ihm verlor.

Bevor die Partei am Sonntag Erdoğans Gefolgsmann Binali Yıldırım an der Spitze der AKP installierte, hatte Davutoğlu noch einmal das Wort. Wenn man es nicht besser wüsste, müsste man sich hinterher fragen, warum er eigentlich gehen musste. So gut redet er an seinem letzten Arbeitstag in diesen Funktionen. Er spricht über eine AKP, die heute kaum noch wiederzuerkennen ist, aber die es einmal tatsächlich gab: eine Reformbewegung. "Die AKP hat die Demokratie in der Türkei entwickelt", erinnert Davutoğlu. Sie fühlte mit ihrem Herzen, was die Bevölkerung fühlte. Die AKP sei auch eine "Partei des ganzen Volkes, der ganzen Türkei", ruft er in die Menge. Er spricht über Ehrgefühl und Menschenwürde. Und er wünsche sich, dass seine Partei diesen Kurs nicht verlasse. Und dann warnt er seine Parteifreunde noch davor, in einen Machtrausch zu verfallen. "Es war für mich immer eine große Ehre, vor euch zu stehen." Er bekommt großen Applaus, der sich in der Sportarena sehr ehrlich anfühlt. Und er bekommt ihn, obwohl sonst wohl kaum ein Redner von Bedeutung an diesem Tag so wenig über Erdoğan gesprochen hat wie er.

Der Kontrast zu Davutoğlus Auftritt könnte kaum größer sein

Die Machtfrage in der AKP hat Erdoğan für sich entschieden. Die Anhängerschaft ist ihm ergeben. Er muss ja nicht einmal persönlich anwesend sein. Es reicht, wenn er im weißen Hemd in Einspielfilmchen auftritt. Da jubelt die Menge. Von Erdoğanisierung der AKP sprechen die Kommentatoren in der Türkei, weil man sich als Anhänger ja längst nicht mehr mit der Politik identifizieren können muss, sondern mit der Person: Erdoğan.

Der Kontrast zu Davutoğlus Auftritt könnte kaum größer sein, als der kommende Parteichef Binali Yıldırım seine erste große Rede hält. Er lebt die neue Harmonie mit Erdoğan bis zu Selbstaufgabe vor: "Dein Weg ist unser Weg", sagt er. Erdoğan preist er als Architekten der neuen Türkei, der frühere Verkehrsminister gibt sich mit der Rolle des Maurers zufrieden: "Stein auf Stein" werde er daran arbeiten. Taten statt Worte, meint er damit. Das trifft sich gut, denn nach einer Viertelstunde bricht ihm die Stimme weg. Er ist gerade noch dazu gekommen, der Terrororganisation PKK den Kampf bis zum Ende anzukündigen. Dann bringt er Sätze nur noch krächzend heraus. Er kämpft sich bis zu Erdoğans Lieblingsprojekt durch: dem Präsidialsystem. "Wir brauchen einen neue Verfassung. Seid ihr bereit?"

Manche AKPler warten gar nicht das Ende der Rede ab. Jetzt könnte man hoffen, dass Binali Yıldırım mit der Zeit dazulernt. Aber beim nächsten Parteitag dürfte sowieso Erdoğan wieder hier stehen.

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SZ vom 23.05.2016/jana
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