Türkei in der Flüchtlingskrise:In Kilis zeigt sich das Versagen der Weltpolitik

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Syrer warten am Grenzübergang Öncüpınar nahe Kilis. Die Stadt ist längst zum Symbol geworden - für das Versagen der Weltpolitik in Syrien und das Leid der Flüchtenden. (Foto: AFP)

In der türkischen Stadt an der Grenze zu Syrien leben so viele Flüchtlinge wie Einheimische. Noch ist die Solidarität groß. Doch der Bürgermeister fürchtet, dass ihm die Kontrolle entgleitet - er warnt Europa.

Reportage von Mike Szymanski, Kilis

Der Kleintransporter mit dem aufgemalten Auge und der großen Träne biegt um die Ecke. Die Freude ist jetzt groß im Stadtviertel Demirciler in Kilis. Die Häuser sind klein. Manche bestehen nur aus vier unverputzten Mauern, mit von Autoreifen beschwertem Wellblech als Dach. Überall gehen Türen auf. Mütter und Väter strecken ihre Köpfe raus. Kinder quetschen sich an ihren Eltern vorbei und rennen aufgeregt auf die Straße.

Die Schiebetüren des Transporters öffnen sich, die Insassen springen wie Spezialkräfte heraus. Die Heckklappe geht auf. Dort stapeln sich bis unters Dach Pappkartons, jeder so prall mit Reis, Brot, Fett und Milch gefüllt, dass die Männer gut zupacken müssen. Sie tragen rote Signalwesten, auf denen Kimse Yok Mu steht: "Ist da niemand?"

Doch, da ist jemand: Männer wie Salih Günay. Hilfe kommt.

Der 38-jährige Möbelhändler hat seinen feinen braunen Wintermantel gegen die Signalweste der türkischen Hilfsorganisation getauscht. Heute trägt er den Kriegsflüchtlingen aus Syrien die Lebensmittel ins Haus, die er selbst bezahlt hat. 35 000 Euro haben er und sein Geschäftspartner gespendet. "Es ist ein großes Gefühl, helfen zu können", sagt Günay.

50 000 Flüchtlinge warten, dass sich das Tor zur Sicherheit öffnet

Kilis, diese kleine türkische Stadt an der Grenze zu Syrien, ist längst zum Symbol für die Überforderung und Hilflosigkeit des Westens geworden, mit dem Bürgerkrieg in Syrien und dessen Folgen fertig zu werden. Hier zeigt sich das Versagen der Weltpolitik: 130 000 Einwohner hat die gleichnamige Provinz und fast schon ebenso viele Flüchtlinge. Im Stadtzentrum leben mehr Syrer als Türken. Und nur ein paar Kilometer südlich, jenseits des Grenzübergangs Öncüpınar, warten bis zu 50 000 Flüchtlinge darauf, das sich auch für sie noch das Tor zur Sicherheit öffnet.

Aber die Türken sagen: Nein.

Es ist ein Drama, das sich an der türkisch-syrischen Grenze abspielt. Die Türkei hatte seit Ausbruch des Bürgerkrieges im Nachbarland eine Politik der offenen Grenzen praktiziert. Wer Schutz suchte, fand ihn in der Türkei. Mehr als zweieinhalb Millionen Flüchtlinge hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seither in sein Land gelassen. Ohne, dass es innenpolitisch große Diskussionen darüber gegeben hätte. Aber auch ohne dass die internationale Gemeinschaft dem Land dabei in nennenswerter Art und Weise unter die Arme gegriffen hätte.

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Diese Politik hat nun ein Ende. Erdoğan bestimmt jetzt den Preis, damit sein Land weiter hilft. Er kann ihn bestimmen, weil Europa an der hohen Zahl an Migranten, die Zuflucht suchen, zu zerbrechen droht.

Als Kanzlerin Merkel am Montag beim türkischen Premier in Ankara zu Besuch war, hatte Ahmet Davutoğlu ihr klar zu verstehen gegeben, sein Land werde nicht länger den Ausputzer spielen. Niemand solle denken, wer wolle, könne seine Bomben über Syrien abwerfen, die Türkei werde die Flüchtlinge dann schon aufnehmen. Nun ist die Grenze dicht. Für die Türkei habe Priorität, die Flüchtlinge jenseits der Grenze zu versorgen, heißt es in Ankara.

Wo bisher Stacheldraht die Türkei und Syrien trennte, wächst eine Betonmauer

Was das bedeutet, kann man beobachten, wenn man die Grenzdörfer nahe Kilis in Richtung Osten abfährt. Ein roter Laster kämpft sich durch die sandige Grenzstraße. In Akıncı, wo bisher Stacheldraht die Türkei und Syrien voneinander trennte, bringt er wieder drei meterhohe Betonelemente für die neue Grenzmauer. Bauer Mehmet Yılmaz steigt von seinem Traktor. Die Mauer ist jeden Tag ein Stück länger, wenn er auf sein Feld rausfährt. "Sie trennt auch meine Familie", sagt er. Die Schwiegermutter seines Sohnes lebe auf der anderen Seite. "Dort gibt es keinen Staat mehr." Ihn macht traurig, wie sich sein Land verhält. "Ein Stück Brot werden wir teilen", das war doch bislang die Politik in Ankara.

Wie sich der Westen, wie sich die Weltgemeinschaft verhält, das macht die Leute hier richtig wütend: Die Russen erbomben sich regelrecht mehr Einfluss für die Zeit nach der Assad-Herrschaft in Syrien. Europa verlangt von der Türkei, die Grenze zu Europa dichtzumachen, aber die zu Syrien für Flüchtlinge zu öffnen. Von den seit Ende 2015 zugesagten drei Milliarden Euro für die Flüchtlingshilfe ist in der Türkei noch kein einziger Euro angekommen. Die mächtigen USA zaudern, ihrer Führungsrolle gerecht zu werden. Und gleichzeitig machen sich 70 000 Menschen in Syrien auf den Weg in Richtung Türkei.

Die Flüchtlinge sind in diesem Konflikt längst zum Druckmittel geworden. Staatspräsident Erdoğan setzt sie seit Monaten ein, um von der EU mehr Aufmerksamkeit und Hilfsmilliarden abzupressen. Aber mit der Schließung der Grenzen erreicht sein Bemühen eine neue Qualität.

Seit Monaten fordert die Türkei die Einrichtung einer Schutzzone entlang der syrischen Grenze. Sie soll auch verhindern, dass die syrischen Kurden das Grenzgebiet komplett unter ihre Kontrolle bringen. Dies fürchtet die Türkei mit dem ungelösten Kurdenkonflikt im Inneren weit mehr als die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats. Indem die Türkei die Flüchtlinge nicht ins Land lässt, schafft sie faktisch eine Zone, die beschützt werden muss.

Es sei denn, die Türkei lenkt doch noch ein. An der Grenze gibt es Anzeichen dafür, dass die Türken im äußersten Notfall nicht mehr nur Verletzte reinlassen. Dort existiert bereits eine Container-Stadt für bis zu 20 000 Syrer. Seit Tagen fahren Laster rein und raus. Das könnte darauf hindeuten, dass die Kapazitäten erweitert werden. Einen Kilometer entfernt betreibt das türkische Hilfswerk IHH ein Lager mit Großküche. 100 000 Brote am Tag gehen dort durch den Ofen. Die Schwämme, mit denen die riesigen Töpfe sauber gemacht werden, sind so groß wie Ziegelsteine. Draußen wird gerade wieder ein Hilfslaster beladen.

50 000 Menschen können versorgt werden, sagt IHH-Sprecher Zafer Ersoy. Sie seien am Rande ihrer Kapazitäten. Die Lage jenseits der Grenze werde immer schwieriger. "Nicht die Grenze muss geöffnet werden, sondern der Krieg muss beendet werden", sagt er.

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Von Deniz Aykanat

Hasan Kara glaubt zu wissen, was seine Stadt Kilis verdient hat: den Friedensnobelpreis. Der 47-Jährige ist Bürgermeister der Grenzstadt. Er hat in sein Gästehaus eingeladen, gleich neben der Cüneyne-Moschee, einer der wenigen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Von seiner Stadt könne Europa lernen, was Solidarität wirklich bedeute. "Bei uns wird sie gelebt", sagt er. So viele Flüchtlinge wie Einwohner - welche Stadt könnte sonst von sich behaupten, so sehr geholfen zu haben?

"Wir teilen gerne. Aber es reicht nicht"

Nun sieht er die EU am Zug. "Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir an unser Limit stoßen." Dreimal so viel Wasser wie vor dem Bürgerkrieg brauche seine Stadt heute, mehr als fünfmal so viel Müll falle an. "Stellen Sie sich eine Person vor, die 100 Kilo wiegt und dann plötzlich 250. So ist das auch mit unserer Stadt. Wir können uns kaum noch bewegen", sagt er. In vielen Wohnungen würden drei, manchmal vier syrische Familien leben. Er brauche schnell 10 000 neue Wohnungen, neue Müllautos, neue Kläranlagen, Parks. "Wir teilen gerne. Aber es reicht nicht."

Seiner Stadt wäre schon mit 100 Millionen Euro geholfen. "Wenn ich diese Stadt nicht mehr beherrschen kann, werden auch die Menschen in Europa bald nicht mehr in Ruhe schlafen können", sagt der Bürgermeister. Er will das als Warnung verstanden wissen. "Ich könnte die Leute auch weiterschicken", sagt er. So nennt jeder seinen Preis.

Salih Günay, der Lebensmittel-Spender, hilft einfach. Er und sein Geschäftspartner Vahap Aksu sind 1000 Kilometer angereist. In ihrer Heimatstadt Bartın an der Schwarzmeerküste ist der Syrien-Krieg auch weit weg. Bei ihnen bebt nicht die Erde wie in Kilis, wenn die Russen Bomben abwerfen. Monatelang hat sich Günay die Bilder vom Krieg, die Bilder von Flucht und Vertreibung im Fernsehen angeschaut. Sie haben ihn nicht mehr ruhig schlafen lassen. Dann spendeten er und sein Geschäftspartner 35 000 Euro der Organisation mit der Träne im Auge. Mit jedem Hausbesuch versteht er das Ausmaß der Katastrophe etwas besser.

Safiye Mahmut, eine 26-jährige Mutter von drei Kindern, glaubt nicht mehr daran, dass sie noch einmal nach Aleppo zurückkehrt. Die Stadt liegt in Schutt und Asche. "Ich bin dafür, dass wir hierbleiben", sagt sie.

Salih Günay hört zu. "Es ist traurig, dass die EU so auf Distanz geht." Dann geht er zum nächsten Haus. Er muss sich beeilen. Er wird erwartet.

© SZ vom 11.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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