Türkei:Wie Erdoğan den Anschlag in Istanbul instrumentalisiert

  • Mindestens 39 Menschen waren am Samstag bei dem Attentat auf Polizisten im zentralen Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ums Leben gekommen, 155 wurden verletzt.
  • Zu dem Attentat bekannte sich rasch eine radikale Kurdengruppe: die Tak, die Freiheitsfalken Kurdistans, eine Splittergruppe der PKK.
  • Erdoğan kündigte Rache an, am Tag darauf wurden Dutzende Politiker der prokurdischen HDP festgenommen.

Von Deniz Aykanat

Nach dem Doppelanschlag in Istanbul hat die Polizei Dutzende Politiker der prokurdischen Partei HDP festgenommen. Bei den landesweiten Einsätzen seien unter anderem die HDP-Chefs in Istanbul und Ankara in Gewahrsam genommen worden, melden türkische Medien. Insgesamt 235 Verdächtigen werden Verbindungen zur verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK zur Last gelegt, berichtet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Ob es sich bei allen um Mitglieder der HDP handelt, ist unklar. Kanzlerin Merkel mahnte die Türkei zu Verhältnismäßigkeit. Zu den Festnahmen äußerte sie sich nicht direkt, sondern sagte: "Das Attentat ist schon sehr dramatisch gewesen."

Mindestens 39 Menschen waren am Samstag bei dem Anschlag auf Polizisten im zentralen Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ums Leben gekommen, 155 wurden verletzt. Das Wichtigste sei jetzt der Kampf gegen die "Pest des Terrors", sagte Präsident Recep Tayyip Erdoğan und kündigte Vergeltung an. "Meine Nation und mein Volk können sich sicher sein: Wir werden die Geißel des Terrorismus bis zum Ende bekämpfen."

Zu dem Attentat bekannte sich rasch eine radikale Kurdengruppe: die Tak, die Freiheitsfalken Kurdistans. Die Tak gilt als Splittergruppe der PKK, wie stark die Verbindung zwischen beiden Organisationen tatsächlich ist, gilt aber als umstritten. Einige Beobachter führen an, dass der PKK die Kontrolle über die Tak längst entglitten sei. Die Splittergruppe verübte in der jüngeren Vergangenheit mehrere verheerende Anschläge (meist in den großen Städten Ankara und Istanbul), die Polizisten und Soldaten zum Ziel hatten - dabei aber auch den Tod von Zivilisten in Kauf nahmen.

Die HDP ist nun aber das erste Ziel der von Erdoğan kurz nach dem Anschlag angekündigten Rache. Ausgerechnet. Dabei stand die HDP, als sie 2015 die politische Bühne betrat, für das mögliche Ende einer sich immer wieder erneuernden Abfolge von Unterdrückung, Anschlag, Rache, Vergeltung und noch mehr Unterdrückung.

Die HDP, die Tak, die PKK - für Präsident Erdoğan sind das drei Akteure, die für ein und dieselbe Sache stehen: Terrorismus. Zumindest sagt er das in der Öffentlichkeit. Es nützt ihm, um den politischen Gegner weiter zu diskreditieren.

Die HDP trat an, um einen neuen Politikstil in der Türkei zu etablieren, der, bevor er so richtig mit Leben erfüllt werden konnte, schon wieder im Keim erstickt wurde. Ihren sagenhaften Aufstieg bei den Parlamentswahlen 2015 verdankte sie ihrem besonnenen Chef Selahattin Demirtaş, der so ganz anders auftrat als der Populist Erdoğan. Demirtaş und HDP-Co-Chefin Figen Yüksekdağ sitzen inzwischen seit Wochen in Untersuchungshaft. Im Juni 2015 hatte die HDP aus dem Stand 13 Prozent der Stimmen gewonnen. Sie verdankte dieses Wahlergebnis einem Programm, das auf Pluralismus, Dialog und Gleichstellung der Frau setzte. Deshalb wählten nicht nur Kurden die Partei. Und die HDP trat auch als ein Gegenentwurf zur PKK an, die den Kurdenkonflikt militärisch zu lösen versucht.

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