Süddeutsche Zeitung

Wahlen in der Türkei:Erdoğan hat Angst

Der Präsident mag die Wahlen am Sonntag noch einmal gewinnen, aber seine Macht nutzt sich ab - und die Opposition von links bis rechts wirkt wie neu belebt.

Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Recep Tayyip Erdoğan hat seine Landsleute aufgefordert, bei der Präsidenten- und Parlamentswahl am kommenden Sonntag "dem Westen" eine Lektion zu erteilen. Weil der Westen seinen Sturz erwarte, sagt Erdoğan. Früher hätte Erdoğan nie über seinen möglichen Abgang geredet. Aber vor diesem Wahltag in der Türkei ist vieles anders als in den vergangenen 16 Jahren, in denen Erdoğan und seine AKP immer gewonnen haben.

Einiges spricht dafür, dass Erdoğan die Serie seiner Siege auch diesmal fortsetzen wird, dass er - vielleicht erst in einer Stichwahl am 8. Juli - wieder Präsident wird. Aber absolut sicher ist es nicht. Und dieser Wahlkampf, den Erdoğan wie aus dem Nichts im April vom Zaun gebrochen hat - er hat die Türkei schon jetzt verändert, und zwar in einer von Erdoğan gänzlich unerwarteten Weise.

Der lange Ausnahmezustand wurde immer wieder kritisiert

Der Dauerherrscher musste erkennen, dass auch seine Macht endlich ist, und er versucht auf den letzten Metern zu retten, was zu retten ist. Er hat jetzt ein Ende des Ausnahmezustands versprochen, als "erste und dringlichste Maßnahme" nach der Wahl. Der Notstand wurde vor zwei Jahren als Reaktion auf den blutigen Putschversuch verhängt. Bald aber schon stand dieser Zustand für Gesetzlosigkeit und Repression, für die Verfolgung von Andersdenkenden, Journalisten, Aktivisten, Künstlern und ihren Mäzenen. Im Mai noch wurde ein Rapper ins Gefängnis geschickt, seine Videos haben Millionen Clicks; am Dienstag kam er auf einmal wieder frei.

Der lange Ausnahmezustand hat der türkischen Regierung immer wieder Kritik der EU, der UN, der eigenen Wirtschaftsverbände eingetragen. Wenn die Opposition ein Ende der Notmaßnahmen verlangte, warf Erdoğan ihr Verständnis für "Terroristen" vor. Nun gilt das Gerede von gestern nicht mehr, Erdoğan steht unter Druck. Viele Umfragen zeigen, dass das Durchregieren, das sich der Präsident geleistet hat mit seinen Dekreten und dem Daumen auf der Justiz, an den Wahlurnen nicht so einfach wiederholbar ist.

So muss Erdoğan in dem Moment, in dem er sich mit seiner Wiederwahl mehr Macht verschaffen will, als je ein türkischer Politiker in Händen hielt, erleben: Macht nutzt sich ab. Eine sehr alte Erkenntnis eigentlich. Trotzdem wird eine Mehrheit der Türken wohl für Erdoğan und seine AKP stimmen; ob es aber zur absoluten Mehrheit reicht, das ist ungewiss. Die Wähler der islamisch-konservativen Partei sind für gewöhnlich äußerst treu, weil es ihnen besser geht als vor 16 Jahren, weil sie nun eine funktionierende Kranken- und Rentenversicherung haben, weil sie stolz darauf sind, dass sie binnen vier Minuten in einem Zug unter dem Bosporus durchrasen können, weil ihnen die Hochhauskulisse Istanbuls Respekt einflößt, auch wenn sie sich nie eine Penthouse-Wohnung leisten können.

Die Opposition wirkt wie neu belebt

Wenn sich einige der Getreuen jetzt abwenden, dann tun sie das, weil sie sich auch andere Dinge nicht leisten können. Die steigenden Preise und die Inflation fressen die niedrigen Einkommen auf. Anderen macht die schleichende Islamisierung des Erziehungswesens Angst. Und sie sehen, wie Macht korrumpiert.

Erdoğan muss sich auch deshalb Sorgen machen, weil die Opposition von links bis rechts wie neu belebt wirkt. Eine selbstbewusste Opposition ist gut für die türkische Demokratie. Selbst nach zwei Jahren Ausnahmezustand, nach all der Repression, haben viele Türken nicht aufgegeben, an eine Veränderung der Verhältnisse mit friedlichen Mitteln zu glauben. Die Wahlbeteiligung dürfte hoch werden.

Die Linke hat in Muharrem Ince zudem einen Kandidaten mit den Qualitäten eines Volkstribuns, er reißt die eigenen Leute aus der Lethargie. Ince bemüht sich, Gräben in der Gesellschaft zuzuschütten, auch zu den Kurden. Nicht aus reinem Gutmenschentum: Die Kurden sollen der Opposition zu einem Triumph verhelfen. Schaffen sie es über die Zehnprozent-Hürde ins Parlament, könnten der AKP jene Sitze fehlen, die sie für die absolute Mehrheit braucht. Koalitionen sind ein Horror für Erdoğan.

Auch die Europäer sind Schuld an der Entfremdung

Der hat um seine Person herum einen Kult gebaut, er wird gestützt von einer nahezu perfekten Propagandamaschine, mit hohem Materialeinsatz. Der antiwestliche Diskurs ist fester Teil der Kampagne, auch wenn dies viele Türken in einen schmerzhaften Zwiespalt bringt. Schließlich leben im viel gescholtenen Deutschland häufig die nächsten Verwandten.

Schuld an der dramatischen Entfremdung sind jedoch auch die Europäer, die immer wieder zeigten, dass sie die Türkei als Partner schon aufgegeben haben. Eigentlich aber bräuchte das Land nach so vielen Traumata - durch Putsche, Putschversuche und Terroranschläge - eher mehr Freunde als Feinde. Egal, wie diese Wahlen ausgehen.

Denn einfacher wird es mit der Türkei erst einmal nicht. Das neue Präsidialsystem setzt fast jede Kontrolle außer Kraft, und es ist nach der Verfassungsänderung schwer wieder abzuschaffen, selbst wenn Erdoğan nicht mehr an der Spitze steht.

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SZ vom 20.06.2018/csi
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