Süddeutsche Zeitung

Wahlen in der Türkei:Kampf um Istanbul

Die 16-Millionen-Metropole ist entscheidend bei den anstehenden Wahlen - weshalb nun die Regierung neue Vorwürfe gegen den populären Oberbürgermeister Imamoğlu erhebt.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu droht ein weiteres Amtsenthebungsverfahren. Die türkische Zentralregierung in Ankara behauptet nach einer einjährigen Untersuchung, unter den fast 44 000 Mitarbeitern der Stadtverwaltung fänden sich 1668 Personen, die Verbindungen zu Terrororganisationen hätten. Imamoğlu trage als Bürgermeister dafür Verantwortung. Der populäre Politiker gilt als möglicher Kandidat für das Amt des Präsidenten.

Ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen könnte er nun seines Postens enthoben werden. Auf diese Weise bekäme die AKP-Regierungspartei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Wahlkampf Zugriff auf das Budget, die Mitarbeiter und die anderen Ressourcen der Metropole: Istanbul mit seinen mindestens 16 Millionen Bewohnern gilt als wahlentscheidend.

So werden die Versuche der Erdoğan-Regierung immer offensichtlicher, die türkische Justiz für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren und Gerichtsentscheidungen zur Schwächung der Opposition zu nutzen. Imamoğlu war jüngst unter an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen zu zweieinhalb Jahren Haft und einem Politikverbot verurteilt worden. Das Verfahren geht zwar in die Berufung, aber eine Aufhebung des Urteils ist alles andere als sicher.

"Bin ich ein Geheimdienst? Bin ich die Justiz?"

Imamoğlu, einer der bekanntesten Oppositionspolitiker, hat die neuen Vorwürfe gegen sich als unsinnig zurückgewiesen und unter Bezug auf die möglichen Verbindungen einzelner Mitarbeiter der Istanbuler Riesenbehörde gefragt: "Bin ich ein Geheimdienst? Bin ich die Justiz?" Aber schon bei dem ersten Gerichtsurteil gegen ihn hatte das Gericht wenig Wert darauf gelegt, dass die Vorwürfe die türkische Öffentlichkeit überzeugen.

Das Innenministerium behauptet nun, dass 1668 Mitarbeiter der Istanbuler Stadtverwaltung gleich mit verschiedenen Terrororganisationen sympathisierten. Darunter ist die militante kurdische PKK, die auch von den USA und der EU als Terrorgruppe gelistet wird. Ebenso findet sich das Netzwerk der Gülen-Islamisten. Die Organisation wird von Ankara für den gescheiterten Militärputsch von 2016 verantwortlich gemacht. Sie gilt in den meisten Staaten allerdings nicht als Terrorgruppe. Der Chef des Gülen-Netzwerks, Fethullah Gülen, lebt seit Jahren in den USA. Zudem werden vom Innenministerium einige linke Splittergruppen genannt. Außerdem führt Ankara an, fast 500 Mitarbeiter der Stadtverwaltung seien ohne Sicherheitsüberprüfung eingestellt worden.

Die Vorwürfe von Innenminister Süleyman Soylu passen ins politische Bild, das die Türkei vor den am 18. Juni anstehenden Wahlen abgibt. Die Regierung muss um ihre Macht fürchten. Sowohl Erdoğans eigene Wiederwahl als Präsident als auch eine für eine Regierungsarbeit nötige Mindestzahl an Parlamentssitzen für die AKP erscheinen inzwischen alles andere als gesichert zu sein.

Wähler wenden sich von der Regierung ab

Jüngste Umfragen zeigen, dass die Wählerschaft sich tendenziell nicht nur von Erdoğans konservativ-islamischer Regierungspartei AKP abwendet. Auch der Präsident selber verliert wegen des stetigen Verfalls der Landeswährung Lira und einer Inflation von inzwischen fast 100 Prozent an Rückhalt.

Die Opposition, die gegen den Amtsinhaber antritt, hat mit dem "Sechser-Tisch" aus sehr unterschiedlichen Parteien ein säkular orientiertes Bündnis geschmiedet. Es verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen Regierungssystem. Die größte Schwäche der Opposition ist, dass sie sich bisher nicht auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt geeinigt hat. Der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu wäre ein Erfolg versprechender Bewerber. Aber mit der juristischen Doppeloffensive und der drohenden Haftstrafe samt Politikverbot kommt er kaum noch infrage. Die Position des Spitzenmannes läuft auf Kemal Kılıçdaroğlu zu, den für viele Nicht-CHP-Wähler weit weniger attraktiven Chef der sozialdemokratischen CHP-Partei.

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