Wenn die islamisch-konservative Welt so aussieht wie an diesem Mittwochabend in Nürnberg, dann müsste man sich keine Sorgen machen. Gleich am ersten Tisch vor dem Rednerpult sitzt eine blonde Dame im knallroten Rock, der über dem Knie endet. Zwei Tische weiter plaudert eine Frau im streng gebundenen Kopftuch mit einer 22-Jährigen - wehendes Haar, feine Gesichtszüge, Ausschnitt mit schwarzer Spitze drüber. Alles ganz entspannt hier. Und weit weg von Wahlkampfbildern, die man von Tayyip Erdoğan in der Türkei kennt: wo uniform wirkende Frauen in Kopftüchern kollektiv dem großen AKP-Chef zujubeln. Die junge Frau wird noch sagen, warum sie als moderne Deutschtürkin Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP wählen wird. Den Mann, den andere Deutschtürken als skrupellosen Alleinherrscher und Islamisierer fürchten.
Es ist türkischer Wahlkampf in Deutschland. Erstmals können die etwa 1,4 Millionen heimischen Türken direkt in der Bundesrepublik wählen, bisher mussten sie dazu immer in die Heimat fahren. Bis Sonntag haben sie Zeit, in sieben Städten abzustimmen. In der Türkei sind die Bürger erst am 10. August zur Wahl aufgerufen. Und so tragen die türkischen Parteien ihren Wahlkampf nach Deutschland.
In Nürnberg hat die AKP-nahe Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) in den Bodrum-Palast geladen, ein großes türkisches Restaurant. An die 50 Leute sind gekommen, vom Kopftuch-Mütterchen bis zum eleganten Geschäftsmann. An den Tischen werden Ayran, Wasser und Süßigkeiten gereicht, von jeder Säule grüßt Herr Erdoğan. Höhepunkt des Abends: Die Rede von Metin Külünk. Der Abgeordnete kümmert sich bei der AKP um die Beziehungen ins Ausland. Der Mann mit den kurzen grauen Haaren ist in den vergangenen vier Wochen durch Österreich, die Schweiz, die Niederlande und etliche deutsche Städte getourt, nun sollen auch die mittelfränkischen Türken gewonnen werden.
"Das wichtigste ist, dass wir unsere Kultur nicht verlieren"
Zu seinen vornehmsten Pflichten zählt es, die Leistungen des Chefs aufzuzählen. Dass die Wirtschaft brummt, dass es jetzt eine U-Bahn unter dem Bosporus gibt, dass der Zug in weniger als vier Stunden von Istanbul nach Ankara rast - wer war's? Herr Erdoğan. Die Türkei soll in die EU, und das mit Selbstbewusstsein: Europa spreche über Menschenrechte, traue sich aber nicht die Verbrechen Israels in Gaza anzusprechen, sagt Külünk. Israels Premier Benjamin Netanjahu werde sich nicht freuen, wenn Erdoğan Präsident werde. Nachdem Erdoğan Israel im Gaza-Streifen "Völkermord" vorgeworfen hat, kann man ihm das glauben. Erfreuliches weiß Külünk zum Thema Integration zu berichten: "Wir sind schon integriert in Deutschland", sagt er. Doch müssten die Türken mehr Kontakte knüpfen zu Deutschen und ihnen damit die Furcht nehmen vor einer Türkei in der EU. "Das wichtigste ist, dass wir unsere Kultur nicht verlieren." Es ist wie immer bei der AKP: Integration ja, aber nie von der Türkei abnabeln!
Die Wahlbürger applaudieren. Für die Deutsch-Türken hier gibt es einen Hauptgrund, Erdoğan zu wählen: den großen Wirtschaftsaufschwung, den die Türkei seit seinem Amtsantritt vor zwölf Jahren genommen hat. "Die Religion spielt auch eine Rolle, aber in der Türkei sind eh alle Moslems", sagt Selma Bas, die Frau mit dem schwarzen Kopftuch. "Sie müssen sich nur Videos aus der Türkei vor zwölf Jahren ansehen", sagt ihre Nachbarin Buket Dimirçi, die Frau mit der modischen Bluse. "Die Türkei war eine Müllhalde." Die Religion, der Streit um Kopftuchverbote, der Machtzuwachs der Religiösen - all das spielt für Dimirçi nur eine untergeordnete Rolle. "Jetzt kann jeder machen, was er will - Erdoğan möchte, dass wir vielseitig sind." Zumindest hier ist das Erdogans Erfolgsrezept: Es fühlen sich alle von ihm vertreten, auch die mit westlichem Lebensstil.
SZ Jetzt Protest gegen "Lachverbot" in der Türkei:Zum Lachen ins Internet
Plötzlich ist das türkische Internet voller lachender Frauen und Mädchen. Mit dieser etwas anderen Protestwelle reagieren sie auf eine Rede des Vize-Premierministers. Er ist der Meinung, Frauen sollten in der Öffentlichkeit nicht lachen.
Die Türkei gibt es zweimal
Bei der Konkurrenz sprechen sie von einem ganz anderen Land, einem, in dem die Unfreiheit wächst und die Gefahr. Die Türkei gibt es zweimal. "Wir wollen unser Land nicht wie Iran haben", sagt Esra Gencero. Die 30-Jährige hat sich mit ein paar anderen Deutschtürken an einem Wahlstand der CHP eingefunden, die der weltlichen Linie des Republikgründers Kemal Atatürk folgt. Vor einem Einkaufszentrum in München-Neuperlach werben eine Handvoll CHP-Anhänger für den Oppositionskandidaten Ekmeleddin Ihsanoğlu, einen renommierten Chemieprofessor.
Es gibt nicht viele, die stehenbleiben, dafür sprechen sie umso entschiedener. "Wir sind ein modernes Land, wenn es so weitergeht, wird es wie in Syrien", sagt Gencero. Erdoğan missbrauche die Religion, verbreite Kopftuch und verstaubte Moralvorstellungen, sagen sie hier. "In der Türkei kann man nicht mehr in Ruhe Alkohol trinken - man wird fast erstochen mit den Augen", sagt eine Frau. Und für Enver Yilmaz war Erdoğan ein Grund, nach seinem Master in Deutschland zu bleiben. "Die Macht vergiftet, die Macht hat sie verrückt gemacht", sagt er. Yilmaz sieht aus wie einer der Anti-Erdoğan-Demonstranten in der Türkei, mit verwildertem Musketierbart, "I am Istanbul" steht auf seinem T-Shirt. Erdoğan sage den Frauen sogar, wie viele Kinder sie haben sollten. "Es ist so dumm."
Ist das übertreiben, ist es Einbildung? Kurz darauf schickt die Agentur AFP eine Meldung, die die Bedenken jedenfalls nicht zerstreut. Erdoğans Stellvertreter Bülent Arinc fordert darin, Frauen sollten sich sittsamer kleiden und in der Öffentlichkeit nicht so laut lachen. Viele Türkinnen posten daraufhin im Internet Fotos von sich. Sie zeigen ihr Lachen.