Süddeutsche Zeitung

Türkei verurteilt mehr Menschen wegen Terror als China:Freigeister unerwünscht

Seit 9/11 wurden in keinem Land so viele Menschen wegen Terrorverdachts verurteilt wie in der Türkei - die meisten davon willkürlich. Vor allem im Umgang mit Intellektuellen scheint die Regierung Erdogan zunehmend die Kommunistische Partei Chinas zu imitieren.

Tim Neshitov

1997 wurde die Istanbuler Verlegerin Ayse Nur Zarakolu vor Gericht gestellt, weil sie einen Menschenrechtsbericht veröffentlicht hatte, in dem ein anonymer Diplomat sagte, einige türkische Soldaten seien "Verbrecher". Zarakolu hatte seit dem Staatsstreich von 1980 bereits vier Gefängnisstrafen abgesessen, es liefen gleichzeitig 22 Verfahren gegen sie, die meisten wegen "Verleumdung des Türkentums".

Zusammen mit ihrem Mann Ragip Zarakolu verlegte sie Bücher, die von den Massakern an den Armeniern im Ersten Weltkrieg als Genozid sprachen oder die Foltermethoden der türkischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) anprangerten. Die Staatsanwälte zerrten mal Ayse Nur Zarakolu, mal ihren Mann auf die Anklagebank.

Ayse Nur Zarakolu erhielt mehrere internationale Preise. Die Auszeichnung der Internationalen Verleger-Union auf der Frankfurter Buchmesse 1998 konnte sie nicht entgegennehmen, da sie nicht ausreisen durfte. 2002 starb sie. Der Eifer der Staatsanwälte konzentrierte sich von da an auf Ragip Zarakolu. Kürzlich wurde der Leiter des Belge Verlags wieder festgenommen. Mit Dutzenden anderen kritischen Intellektuellen sitzt er in Untersuchungshaft, weil er angeblich eine kurdische Terrororganisation unterstützt. Man könnte meinen, es habe sich für türkische Intellektuelle wenig verändert seit dem Tod von Ayse Nur Zarakolu und dem politischen Aufstieg des Premiers Recep T. Erdogan im selben Jahr.

Aber es hat sich einiges verändert. Man sollte nicht vergessen, dass Erdogan für die demokratische Öffnung der Türkei mehr geleistet hat als irgendein Politiker der letzten zwei Jahrzehnte. Sein Kampf gegen den Geheimbund Ergenekon ist auch ein Kampf gegen den faschistoiden Nationalismus, dem viele Intellektuelle während der Junta-Zeiten und in den wilden Neunzigern zum Opfer fielen. Dass Erdogan daran scheitert, die "Kurdenfrage" mit politischen Mitteln zu lösen, hat nicht zuletzt mit der Sturköpfigkeit einiger Kurdenführer zu tun, die immer noch an den Terror-Kampf glauben.

Der reflexartige Kampagnen-Patriotismus der armenischen Diaspora, der weltweit mehr Gemüter erhitzt als aufklärt, macht es nicht leichter. Doch für das geistige Klima der Türkei ist derzeit weniger relevant, ob Erdogan ein cholerischer Demokrat ist, der die Nerven verloren hat, oder ein unbefriedigter Alleinherrscher, der seine Macht gerne in pauschalen Verhaftungswellen manifestiert. Relevant sind in diesem Fall nicht die Ursachen, sondern die Folgen.

Anzeichen eines "demokratischen Autoritarismus"

Ahmet Insel, ein in Paris promovierter Publizist und Initiator der Unterschriftenaktion "Wir bitten die Armenier um Vergebung", erkennt in der Türkei Anzeichen eines "demokratischen Autoritarismus". Er meint damit ein Regime, das "alle Formen von Opposition kriminalisiert, die es nicht akzeptieren kann" und dazu Verschwörungstheorien benutzt. Zugegeben: Die Art, wie sich selbsternannte Kurdenführer in der Türkei organisiert haben, schreit geradezu nach einer Verschwörungstheorie. Kein Mensch scheint Genaueres über die Untergrundorganisation Koma Civaken Kurdistan (KCK) zu wissen, mit der der Verleger Ragip Zarakolu und nahezu zweitausend weitere Inhaftierte nun in Verbindung gebracht werden.

Murat Yetkin, ein sonst scharfsinniger Kolumnist der liberalen Zeitung Radikal, teilt seinen Lesern mit, die KCK sei das Ergebnis einer "eklektischen Zusammenführung" der Guerillataktiken von Lenin und Mao, ersonnen vom PKK-Chef Abdullah Öcalan. Premier Erdogan serviert die Begriffssuppe gerne auf Kundgebungen: "Wir müssen die KCK gut kennen. Wer nicht weiß, wie tief die KCK reicht, wer da welche Rolle übernommen hat, . . . der unterstützt den Terror. So klar sage ich euch das."

Dass nichts klar ist, weiß Erdogan selber. Es wird erfahrungsgemäß mindestens ein Jahr dauern, bis geklärt ist, ob etwa Ragip Zarakolu eine Rolle innerhalb der KCK übernommen hat, und wenn ja, welche - außer dass er seit Jahren sagt, auch Kurden hätten ein Recht auf Selbstbestimmung. "Unsere Angst ist die Angst des Wolfes, die Angst der Kurden ist die Angst des Lammes", schrieb er 2003 in einem Artikel, der ihm einen Prozess einbrachte. "Der Wolf sagt zum Lamm: Du trübst mein Wasser. Das Lamm erwidert: Wie kann ich es trüben, ich lebe doch stromabwärts. Worauf der Wolf sagt: Ob du es nun trübst oder nicht, ich werde dich fressen."

Die Nachrichtenagentur Associated Press hat berechnet, dass seit 9/11 in keinem Land so viele Menschen unter Terrorverdacht verurteilt wurden wie in der Türkei: zwölftausend von weltweit fünfunddreißigtausend. Die meisten Verhaftungen fielen in die letzten fünf Jahre. Platz zwei belegt China - mit Terrorprozessen, die ebensowenig mit 9/11 zu tun haben wie die in der Türkei.

Die beiden Länder sollte man nicht leichtfertig vergleichen, aber diese statistische Nachbarschaft ist kein Zufall. Die Regierung Erdogan scheint im Umgang mit Freigeistern zunehmend die Kommunistische Partei Chinas zu imitieren. Beide sind von einem Sonderweg ihres Volkes überzeugt und davon, dass nur sie wissen, wo es auf diesem Sonderweg langgeht.

Wenn die türkische Regierung keine Mittel scheut, um Istanbul als kulturellen Nabel Europas zu etablieren, und gleichzeitig Verleger drangsaliert, die das neo-osmanische Geostrategie-Gehabe in Frage stellen, erinnert das an die Strippenzieherei der Kultur-Eunuchen in Peking. Dort verkündete die Spitze der Kommunistischen Partei im vergangenen Monat den Beginn einer "nationalen Anstrengung", um das kulturelle Gewicht Chinas dessen wirtschaftlichem Gewicht anzupassen. Kurz darauf verbot sie lange erwartete Ausstellungen der aufmüpfigen Künstler Yue Luping und Yu Jianrong.

Dabei sind weder China noch die Türkei Diktaturen. Vieles ist erlaubt, wobei die Grenzen des Erlaubten bewusst fließend gehalten werden. Chan Koonchung, ein chinesischer Publizist und Medienunternehmer, der sich jahrelang aus politischen Diskussionen heraushielt, wagte jüngst einen antiutopischen Roman. "Shengshi Zhongguo 2013" (deutsch etwa: "Chinas Goldenes Zeitalter 2013") beschreibt eine zweite globale Wirtschaftskrise, die Chinas rote Herrscher beinahe die Macht kostet. Das Regime ertränkt den Volksaufstand in Blut und vergiftet danach das Wasser mit Chemikalien, die in Menschen Glücksgefühle hervorrufen und den Konsum ankurbeln. Das Land versinkt in Amnesie.

Der Roman wurde in China verboten und erschien bisher nur in England. Der Autor wurde jedoch in Ruhe gelassen, bisher. "In China ist es der Staat, der entscheidet, ob du Dissident bist oder nicht", sagte Chan der New York Times. "Es wird dir aufgezwungen. Ich bin noch nicht als Dissident abgestempelt worden."

Selbstzensur und Verwässerung moralischer Maßstäbe

Willkürliche Bestrafung hat in Halbdemokratien meistens zwei Folgen. Erstens führt sie zur Selbstzensur. Vor zwei Wochen entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Altug Taner Akcam gegen die Republik Türkei. Akcam ist Geschichtsprofessor mit türkischem und deutschem Pass, der zur Lage der Armenier im Osmanischen Reich forscht. 2007 reichte er in Straßburg eine Klage gegen Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs ein, der die "Beleidigung des Türkentums" unter Strafe stellt.

Akcam selbst wurde in der Türkei zwar nicht verurteilt, aber er argumentierte, der Artikel bereite - auch in seiner abgemilderten Version von 2008 - ihm und seinen Kollegen "erheblichen Stress und Sorge" und hemme ihre Forschung. Die hohen Richter stellten nüchtern fest, dass der Artikel die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt.

Die zweite, schlimmere Folge der Halbfreiheit ist die Verwässerung moralischer Maßstäbe. In Russland - wo die Herrscher ebenfalls einen Sonderweg bestreiten, den einer "souveränen Demokratie" - ist eine Debatte über die Vorteile einer klar definierten Diktatur entbrannt. "Halbfreiheit und eine halbgeöffnete Grenze sind deswegen widerlich, weil sie es den Menschen nicht erlauben, sich moralisch zu positionieren", schreibt der Dichter und Journalist Dmitrij Bykow. "Eine Halbzensur, ein Halbverbot auf natürliche und selbstverständliche Sachen, Halbwahrheiten und Halbpropagandas, eine allgegenwärtige Heuchelei, die nicht hinter der sowjetischen zurückbleibt - all das verdirbt das Land schneller . . . als eine vollwertige Diktatur."

Damit dies anschaulicher wird, zitiert Bykow Thomas Mann: "Hitler hatte den großen Vorzug, eine Vereinfachung der Gefühle zu bewirken, das keinen Augenblick zweifelnde Nein, den klaren und tödlichen Haß. Die Jahre des Kampfes gegen ihn waren moralisch gute Zeit." Der türkische Verleger Ragip Zarakolu konnte sich sowohl während der Junta-Herrschaft wie unter Recep T. Erdogan klar positionieren - eine seltene Eigenschaft.

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Quelle:
SZ vom 10.11.2011/bero
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