Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu hat in der Türkei wütende Proteste ausgelöst. In Istanbul, wo der populäre CHP-Politiker zweimal die Bürgermeisterwahl gewonnen und sich als größter Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Stellung gebracht hatte, widersetzten sich Tausende seiner Anhänger dem viertägigen Demonstrationsverbot und versammelten sich vor dem Rathaus.
Auf der Kundgebung gab sich İmamoğlus Ehefrau Dilek İmamoğlu kämpferisch. „Heute sind wir alle festgenommen worden, heute wurden die Rechtsstaatlichkeit, die Gerechtigkeit und die Demokratie festgenommen“, sagte sie. „Aber ich verspreche euch: Wir werden nicht zurückschrecken, wir werden nicht aufgeben, wir werden uns aneinander klammern und unseren Weg weitergehen.“
Es ist vermutlich kein Zufall, dass İmamoğlu gerade jetzt festgenommen wurde
Am Donnerstag ließ der Inhaftierte eine Stellungnahme über X verbreiten, in der er das Wort an die „Zehntausenden ehrenwerten und moralischen Staatsanwälte und Richter der obersten türkischen Justiz“ richtete, die es liebten, ihrer Nation zu dienen. „Sie müssen aufstehen und Maßnahmen gegen eine Handvoll Ihrer Kollegen ergreifen, die die türkische Justiz ruiniert, uns in der ganzen Welt in Verruf gebracht und unseren Ruf zerstört haben.“ Er vertraue auf die oberste türkische Justiz, „Sie können und dürfen nicht schweigen“.
Seit Jahren hat die regierungsfreundliche Justiz İmamoğlu im Visier. Ihm werden unter anderem Korruption und die Unterstützung der Terrorgruppe PKK vorgeworfen. Einmal wurde er auch schon verurteilt: Ein Gericht belegte ihn mit einem Politikverbot und verurteilte ihn zu einer Haftstrafe, wenngleich das Urteil bisher nicht rechtskräftig ist.
Dass er an diesem Mittwoch festgenommen wurde, sehen viele nicht als Zufall: Am kommenden Wochenende sollte er von der CHP zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028 ernannt werden. Neben İmamoğlu hatten die Behörden am Mittwoch weitere 105 Menschen festgenommen, darunter Mitarbeiter des Politikers, Unternehmer, Künstler und Journalisten.
Auch gegen Social-Media-Nutzer sind die Behörden vorgegangen
Die Repressionen gingen nach den Verhaftungen weiter: Das Bauunternehmen des Bürgermeisters, „İmamoğlu Construction“, sei „basierend auf Untersuchungsberichten zu Finanzkriminalität“ beschlagnahmt und unter Kontrolle eines Strafgerichts gebracht worden, teilte die Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft mit.
Außerdem gingen die Behörden auch gegen Social-Media-Nutzer vor. 37 Menschen habe die Regierung wegen „provokanter“ Posts festnehmen lassen. Laut Innenminister Ali Yerlikaya seien auf X 261 Konten identifiziert worden, „die zu Straftaten und Hass aufstacheln“, 62 davon seien im Ausland gemeldet.
Dass die Regierung mit Protest gerechnet hatte, zeigte sich am Istanbuler Stadtbild deutlich: U-Bahn-Haltestellen und öffentliche Parks waren mit Absperrgittern unzugänglich gemacht worden, in Istanbul wurden Demonstrationen für vier Tage verboten, soziale Medien waren nur eingeschränkt nutzbar.
Zur Demonstration vor dem Istanbuler Rathaus kamen trotzdem viele Tausende. CHP-Chef Özgür Özel bezeichnete bei der Kundgebung die Verhaftung İmamoğlus als „Putschversuch gegen den nächsten potenziellen Präsidenten“. Man sei Zeuge, wie der Wille des Volkes durch einen juristischen Coup unterdrückt werden solle.
Erdoğan wirft der Opposition „Heuchelei“ vor
Die Regierung wies die Anschuldigungen zurück. Erdoğan warf in Ankara der Opposition am Donnerstag vor, die „Nation“ zu täuschen. „Die Bemühungen der Opposition, ihre internen Konflikte oder ihre Probleme mit dem Gesetz als das wichtigste Problem des Landes darzustellen, sind der Gipfel der Heuchelei“, sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Er habe keine Zeit mit der Opposition zu verschwenden. Und Justizminister Yilmaz Tunç nannte es „anmaßend“, die Ermittlungen gegen İmamoğlu mit Erdoğan in Verbindung zu bringen. Es sei extrem gefährlich und falsch, politische Motive hinter den Festnahmen zu sehen.
Die Welle der Solidarität blieb auch am Tag nach den Verhaftungen ungebrochen. Studenten mehrerer Universitäten in Istanbul und Ankara demonstrierten für die Freilassung İmamoğlus. Seine Partei rief alle Menschen auf, am Sonntag symbolisch über seine Nominierung zum CHP-Präsidentschaftskandidaten und Erdoğan-Herausforderer abzustimmen. Neben den rund 4000 Wahlboxen für die 1,7 Millionen Parteimitglieder sollten dazu landesweit Solidaritätswahlboxen aufgestellt werden.
Wie eng geschlossen die Reihen bei der CHP sind, zeigte auch Ankaras Bürgermeister Mansur Yavaş, der lange als aussichtsreicher Kandidat neben İmamoğlu zählte. Er hatte schon vor der Verhaftung seines Parteikollegen seine Kandidatur aus Solidarität zu İmamoğlu zurückgezogen.