Türkei:Erdoğan kann bei der Wahl geschlagen werden

Türkei: Erdoğan will gewählt werden - und wird nichts dem Zufall überlassen.

Erdoğan will gewählt werden - und wird nichts dem Zufall überlassen.

(Foto: AP)

Sie ist nicht groß, aber es gibt sie: die Chance, den türkischen Präsidenten in acht Wochen zu besiegen. Doch dafür müssten die Oppositionsparteien etwas schaffen, was ihnen bisher sehr schwer gefallen ist.

Kommentar von Luisa Seeling

So schnell konnte die Opposition in der Türkei gar nicht "Wahlkampf" sagen, da war sie schon mittendrin. Gerade mal acht Wochen hat sie nun Zeit, um etwas zu schaffen, das ihr in den vergangenen 16 Jahren nicht gelungen ist: sich so weit zusammenzuraufen, dass sie der Übermacht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner Staatspartei, der AKP, etwas entgegensetzen kann. Ihre Chancen, Erdoğans Marsch zur Ein-Mann-Herrschaft zu stoppen, sind, vorsichtig gesagt, nicht überragend. Völlig chancenlos ist sie aber nicht - vorausgesetzt, sie behält das übergeordnete Ziel im Blick: die Rettung der Demokratie oder zumindest die Rückkehr zu einem politischen Wettbewerb, der diese Bezeichnung verdient.

Natürlich wird Erdoğan nichts dem Zufall überlassen. Mit Milde können inhaftierte Gegner und Journalisten auch weiter nicht rechnen, das zeigen die teils hohen Haftstrafen, die ein türkisches Gericht am Mittwoch gegen 14 Mitarbeiter der regierungskritischen Cumhuriyet verhängt hat. Das Urteil offenbart nicht nur ein krudes Verständnis davon, was Journalismus darf und leisten sollte. Es ist auch eine Warnung an alle, die den kommenden Wahlkampf und seine unfairen Bedingungen kritisch begleiten wollen.

Vergangene Woche, fast gleichzeitig mit Erdoğans Ankündigung, dass die Wahlen nun schon Ende Juni stattfinden sollen, wurde zum siebten Mal der Ausnahmezustand verlängert. Damit ist unter anderem das Versammlungsrecht eingeschränkt, die Polizei darf bei so ziemlich allem einschreiten, was Erdoğan und sein mit AKP-Leuten besetzter Staatsapparat zur nationalen Bedrohung erklären. Für die Opposition ist das ein Ritt auf der Rasierklinge: Sie muss die Regierung angreifen, aber es reicht ein unvorsichtiger Tweet, um die Justiz am Hals zu haben.

Selbst wenn man sich all das - den Ausnahmezustand, die geballte Medienmacht der Regierung, die politisierte Justiz - für einen Moment wegdenkt, bleibt noch das Zeitproblem. Wie soll die zersplitterte Opposition auf die Schnelle eine Einheitsfront hinbekommen? Immerhin reicht das Spektrum von ganz rechts (die erst vor Kurzem gegründete Iyi-Partei) bis links (HDP), von säkular (die größte Oppositionspartei CHP) bis islamisch (die Kleinstpartei Saadet). In der großen Eile könnte aber eine Chance stecken: Für die üblichen Querelen bleibt keine Zeit, es muss schnell eine Strategie her, sonst ist das Rennen gelaufen.

Wenn die Opposition die Demokratie retten will, muss sie sofort alle Kräfte bündeln

In den vergangenen Tagen gab es zwischen diesen Parteien vermutlich mehr Gespräche als zuvor in Jahren, die CHP überraschte gar mit einer spektakulären Aktion: Weil die Teilnahme der Iyi-Partei wegen einer Formalität infrage stand, wechselten 15 CHP-Abgeordnete die Fraktion. Ein Anti-Erdoğan-Bündnis erscheint möglich, jenseits aller Streitigkeiten.

Viel hängt jetzt davon ab, wen die Parteien als Präsidentschaftskandidaten ins Rennen schicken - und ob darunter jemand ist, der in der absehbaren Stichwahl große Teile der Opposition hinter sich vereinen kann. Heißester Anwärter bisher, als Gemeinschafts- oder Saadet-Kandidat: Abdullah Gül, Ex-Präsident und AKP-Mitgründer, der sich nach Differenzen mit Erdoğan weitgehend aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte. Bisher hält sich Gül bedeckt; wie viel Substanz das Geraune um sein mögliches Comeback hat, ist unklar. So oder so - wer auch immer antritt, der eigentliche Spitzenkandidat der Opposition heißt: Demokratie.

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