Türkei:Unter Putsch-Verdacht

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat am Wochenende erneut Tausende Staatsbedienstete per Notstandsdekret entlassen - kurz nachdem beim Außenministertreffen auf Malta die EU-Perspektive des Landes diskutiert wurde.

Von Luisa Seeling

Am Freitag erst hatte sich der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu mit Vertretern der Europäischen Union über die EU-Beitrittsperspektive seines Landes unterhalten; man wolle den Prozess fortsetzen, hatten beide Seiten beim Ministertreffen auf Malta erklärt. Fortschritte, hatte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hinzugefügt, könne es allerdings nur geben, wenn sich die Türkei an die Voraussetzungen in den Bereichen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit halte.

Was am Wochenende folgte, wirkte indes nicht so, als hätte Mogherinis Mahnung in Ankara allzu großen Eindruck hinterlassen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan machte am Samstag von seinem Recht Gebrauch, per Notstandsdekret zu regieren, und entließ erneut knapp 4000 Staatsbedienstete. Betroffen sind Berichten zufolge Angehörige der Streitkräfte, des Justizministeriums und der Religionsbehörde Diyanet sowie Universitätsdozenten. Ihnen werden Verbindungen zu dem islamischen Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen, den die türkische Regierung für den Umsturzversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich macht.

Der Erlass vom Wochenende verbietet auch die populären Kuppelshows im Fernsehen

Erst vor wenigen Tagen hatten die Behörden schon mehr als 9000 Polizisten wegen angeblicher Gülen-Verbindungen suspendiert und über 1000 festgenommen. Schätzungen zufolge sind seit Juli mehr als 140 000 Menschen suspendiert oder entlassen worden. Seit dem gescheiterten Putschversuch befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand; nach der Volksabstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems Mitte April war der Notstand erneut um drei Monate verlängert worden.

Der Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, Zeid Ra'ad al-Hussein, sprach von einem "Klima der Angst im Land" und kritisierte, bei einer so großen Zahl an Entlassungen sei es "höchst unwahrscheinlich", dass diese den Verfahrensregeln entsprächen. Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, schrieb in einer Erklärung zum 1. Mai, Grundrechte und Freiheiten würden durch die Notstandsdekrete zerstört. Er bezog sich dabei insbesondere auf die Beschränkung der Versammlungsfreiheit. Das Verbot, am 1. Mai in Istanbul auf dem Taksim-Platz zu demonstrieren, ist allerdings schon länger in Kraft. Auch in diesem Jahr kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei und Festnahmen, als Demonstranten versuchten, den zentralen Platz zu erreichen.

Besonderes Aufsehen erregte am Wochenende der Beschluss der türkischen Telekommunikationsbehörde, den Zugang zum Online-Lexikon Wikipedia zu sperren. Medienberichten zufolge hatte die Behörde die Seitenbetreiber aufgefordert, Einträge zu löschen, wonach die Türkei mit Terrorgruppen kooperiere; dem sei Wikipedia nicht nachgekommen.

Am Wochenende trat auch ein Verbot in Kraft, das sich bereits im März angedeutet hatte, als Vize-Premier Kurtulmuş die populären TV-Kuppelshows kritisierte - sie verstießen gegen den Glauben und die Tradition. Seit Samstag darf nun im türkischen Fernsehen fürs Erste nicht mehr gekuppelt werden.

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