Türkei unter Erdoğan:Poltergeist vom Bosporus

Recep Tayyip Erdogan

Der Premierminister der Türkei: Recep Tayyip Erdoğan

(Foto: AP)

Recep Tayyip Erdoğan hat die Türkei verändert. Zum Guten, wie viele fanden. Doch dieser Eindruck verkehrt sich immer mehr ins Gegenteil. Denn auch der Premier hat sich gewandelt - nicht zu seinem Besten.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Türkische Karikaturisten, deren Mut und Unbeugsamkeit zu jeder Zeit heraussticht, haben nun fast nur noch ein Thema: Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan. In der aktuellen Ausgabe von Uykusuz (Schlaflos), einer wöchentlichen Comic-Zeitschrift, schmückt der Premier den Titel (siehe unten). Erdoğan hält eine Schachtel in Händen, darin sind vier Puppen zu sehen: ein Richter, ein Polizist, ein General, ein islamischer Geistlicher. In der Sprechblase steht: "Wenn ich drei sage, wechselt jeder den Platz."

In den vergangenen vier Wochen mussten so viele Richter, Staatsanwälte, Polizeichefs, Journalisten im Staatsfernsehen, Mitarbeiter der Bankenaufsicht und der Internetbehörde auf Geheiß der Regierung Erdoğan ihre Schreibtische räumen, dass kaum noch jemand Listen über die Versetzungen, Amtsenthebungen und Postenwechsel führen kann. "Wir schauen nach links und nach rechts mit Misstrauen", hat Außenminister Ahmet Davutoğlu jüngst gesagt. So offen hat kein anderer Regierungspolitiker die aktuellen Zustände in Ankara beschrieben. Davutoğlu: "Wir wissen nicht, wem wir trauen sollen."

Die Erfolgsgeschichte ist zu Ende

Was ist aus der selbstbewussten türkischen Regierung und ihrem Premier Erdoğan geworden? Wenn Erdoğan, 59, an diesem Dienstag das erste Mal seit Januar 2009 wieder in Brüssel mit den Spitzen der EU zusammentreffen wird, dann muss er gewiss auch erklären, was mit ihm und seinem Land los ist. Der Unterschied zur Türkei - und zur EU - von vor fünf Jahren ist gewaltig. Die Türkei litt zwar 2009 auch unter der Weltwirtschaftskrise, aber Europa traf sie viel härter. In ihrer nahöstlichen Nachbarschaft wurde die Türkei als Erfolgsmodell gefeiert, auch weil es der Regierungspartei AKP scheinbar mühelos gelang, Demokratie und Islam unter einen Hut zu bringen. Besucher aus dem Westen staunten über die Glitzermetropole Istanbul, in der wöchentlich ein neuer Wolkenkratzer seine Skylounge öffnete.

Auch demokratisch machte das Land Fortschritte. Unerschrocken wies Erdoğan das Militär in die Schranken, das schon mehrmals geputscht hatte. Der gläubige Premier sorgte dafür, dass religiöse Minderheiten zumindest Teile ihres vom Staat über Jahrzehnte hinweg konfiszierten Eigentums wiederbekamen. Der erste Regierungschef, der nicht aus der Elite, sondern aus einem Istanbuler Slum kommt, eröffnete einen Dialog mit den Kurden. 2011 wurde die AKP in einer Parlamentswahl mit 50 Prozent der Stimmen belohnt - der dritte Wahlsieg seit 2002 in Folge. Eine türkische Erfolgsgeschichte ohne Beispiel.

Die scheint zu Ende zu sein. Seitdem die Istanbuler Polizei am 17. Dezember ausschwärmte, um Ministersöhne, Kommunalpolitiker, einen Staatsbankchef und AKP-nahe Unternehmer wegen Korruptionsvorwürfen festzunehmen, ist nichts mehr, wie es war. Erdoğan reagierte mit einem selbst für Parteifreunde überraschenden Furor. Reihenweise ließ er Beamte auswechseln - nicht weil sie korrupt sind, sondern weil sie die Korrupten verfolgen wollten. Kritiker mussten die AKP verlassen. Erdoğan nennt die Ermittlungen eine "Verschwörung", als Drahtzieher nahm er einen - auch von vielen AKP-Leuten - verehrten türkischen Prediger ins Visier: den seit 1999 in den USA lebenden Fethullah Gülen. Der galt lange als Verbündeter, weshalb Erdoğan mit dem Kurswechsel die eigene Klientel verwirrt.

Die alten Laster sind zurückgekehrt

Vor allem in der lukrativen Istanbuler Baubranche ist die Korruption nach elf Jahren AKP-Alleinregierung eine allseits bekannte Plage. Die AKP war einst angetreten, die Bakschisch-Mentalität auszutreiben. Dass die alten Laster zurückgekehrt sind, das kreischen die Möwen von den Dächern. "Schlimmer als die Korruption ist die demokratische Schwäche des politischen Systems und der politischen Kultur", schrieb die Kommentatorin Nuray Mert am Montag in der Hürriyet Daily News. Sie kritisiert, dass sich Erdoğan - aber auch die Opposition - nicht von einem autoritären Politikstil verabschiedet hätten. Auch dies ist ein altes türkisches Übel.

Von Erdoğan ist bekannt, dass er Kritik nur schwer erträgt. Immer wieder hat er auch seine Berater gewechselt. Auf die Demonstrationen, die sich im vergangenen Juni am Streit um den kleinen Istanbuler Gezi-Park entzündeten, reagierte er ebenfalls mit Wucht: Er ließ die Polizei prügeln. Es war dieser Einsatz der Staatsgewalt, der dann die landesweite Protestwelle in Gang setzte. Die Demonstranten wollten den Sturz des Premiers, und türkische Beobachter glauben, dass Erdoğan die Kraft der überwiegend bürgerlichen, jungen Protestierer eher über- als unterschätzte. Auch der Gezi-Sommer hat wohl dazu beigetragen, dass Erdoğan sich im Angesicht der Korruptionsaffäre mehr denn je vor Kontroll- und Machtverlust fürchtet.

Türken fürchten neues Poltern

Zumal die Vorwürfe bis in die eigene Familie reichen. Sohn Bilal soll in intransparente Grundstücksgeschäfte verwickelt sein. Bewiesen ist dies nicht. Bilal Erdoğan wurde eine Aussage vor der Justiz erspart. Vater Tayyip ließ wissen: "Sollte eines meiner Kinder korrupt sein, würde ich keine Sekunde zögern und es verstoßen."

Wie wird der Premier in Brüssel auftreten? Wird er wieder einen Wutausbruch bekommen oder sich mäßigen, fragen türkische Kommentatoren. Und wie wird er erklären, warum die Regierung einen hochkontroversen Gesetzentwurf durchs Parlament gejagt hat, mit dem sie die Kontrolle über den Obersten Richterrat erhalten will? Ob Staatspräsident Abdullah Gül das Gesetz unterzeichnet, ist offen. Gül hat gerade daran erinnert, die Türkei müsse sich an EU-Standards halten.

Erdoğan bringt einen neuen EU-Minister mit nach Brüssel. Gegen den bisherigen gab es Korruptionsvorwürfe, er wurde bei einer eiligen Kabinettsumbildung im Dezember nicht mehr berücksichtigt. Der Neue, Mevlüt Çavuşoglu, sagte der Zeitung Milliyet, die Türkei halte an ihrem EU-Ziel fest. Er bedauerte die verlorene Hoffnung vieler Türken, dass ihr Land je EU-Mitglied werden könne. Das hört sich so an, als wünschten sich viele in Ankara, Erdoğan möge in Brüssel nicht poltern. "In unser Region, für Menschen aus dem Nordirak oder aus Syrien, ist die Türkei wie Eurodisney, eine Tür zum europäischen Markt", sagte Emre Gönen, EU-Experte der Istanbuler Bilgi Universität in einem Hürriyet-Interview. Ein Ende der EU-Perspektive wäre für jede türkische Regierung in der Tat ein schwerer Schlag. Vielleicht meint Semih Idiz vom liberalen Blatt Taraf deshalb: Es wäre besser gewesen, wenn Erdoğan gar nicht nach Brüssel gefahren wäre. Dann hätte er nichts falsch machen können.

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