Türkei und Russland:Demonstrativ einig

Nach den tödlichen Schüssen auf Russlands Botschafter in Ankara will Moskau seinen Kurs in Aleppo nicht ändern - und nun sogar mit der Türkei und Iran in Syrien vermitteln.

Von Julian Hans, Tim Neshitov und Luisa Seeling, Moskau/München

Das ernste Gesicht des Diplomaten. Der Mann im schwarzen Anzug und Krawatte hinter ihm. Die Erschütterung, die durch den Körper des Botschafters geht, als ihn das Geschoss in den Rücken trifft. Immer wieder senden die russischen Fernsehkanäle diesen Moment. Am Montagabend um 19.15 Uhr gibt der Polizist Mevlüt Mert Altıntaş mehrere Schüsse auf den russischen Botschafter ab, der im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Ankara eine Ausstellung mit Fotos eröffnet, die türkische Fotografen in Russland aufgenommen haben. 40 Minuten später erliegt der 62-Jährige seinen Verletzungen. Den Attentäter erschießen herbeigeeilte Polizisten.

Immer wieder sehen die Zuschauer Andrej Karlow zusammenbrechen und den Täter mit der Pistole gestikulieren. Es wirkt wie eine szenische Umsetzung des Vorwurfs, den Wladimir Putin der türkischen Regierung nach dem Abschuss des russischen Kampfjets vor einem Jahr machte: "Das war ein Stoß in den Rücken."

Jetzt verhandeln die Länder, die in Syrien tatsächlich Einfluss haben, sagt Russlands Außenminister

Doch jetzt, nachdem es diesen Stoß in den Rücken buchstäblich gab, wählt Putin seine Worte zurückhaltender. In einer knappen Ansprache, die das Fernsehen in der Nacht ausstrahlt, verurteilt der russische Präsident zunächst den "gemeinen Mord" und drückt den Angehörigen des Opfers seine Anteilnahme aus. Das Verbrechen sei ohne Zweifel eine "Provokation mit dem Ziel, eine Verbesserung der russisch-türkischen Beziehungen zu sabotieren", urteilt Putin. Der "Friedensprozess in Syrien" solle gestört werden, an dem Russland, die Türkei, Iran und andere Länder gemeinsam arbeiteten. "Darauf kann es nur eine Antwort geben: die Verschärfung des Kampfes gegen den Terror." Dieser Anschlag soll Russland und die Türkei nicht erneut entzweien, nachdem es nach einer Eiszeit seit Sommer wieder Annäherungen gibt. Das ist aus jeder Stellungnahme herauszuhören, die in Moskau oder Ankara abgegeben wird.

Diesmal ruft Recep Tayyip Erdoğan sofort nach der Tat bei seinem russischen Kollegen an. Nach dem Abschuss im November 2015 hatte Putin dem Türken vorgeworfen, dass dieser zuerst mit dem Nato-Hauptquartier telefoniert hatte, bevor er Kontakt mit Moskau aufnahm. Das Treffen der Außen- und Verteidigungsminister Russlands, der Türkei und Irans findet wie geplant am Dienstag statt.

Am Nachmittag verkündet Lawrow einen neuen Anlauf zu einer Feuerpause in Syrien. Russland, Iran und Syrien wollen zudem Verhandlungen zwischen der Assad-Regierung und der syrischen Opposition begleiten. Während "unsere westlichen Partner sich nur in Rhetorik und Propaganda ergangen" hätten, verhandelten jetzt die Staaten miteinander, die "tatsächlich Einfluss auf eine Verbesserung der Lage am Boden nehmen" könnten. In Aleppo hatten iranische Milizen und die russische Luftwaffe der syrischen Armee den Weg in den lange von der Opposition gehaltenen Ostteil der Stadt gebahnt. Die Türkei mit ihrem Einfluss auf die Assad-Gegner hatte schließlich den Abzug der Kämpfer mit ausgehandelt. Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu schlägt in dieselbe Kerbe, als er bei einem Treffen mit seinen Kollegen aus der Türkei und Iran eine von Russland erarbeitete "Moskauer Erklärung" ankündigt: "Alle bisherigen Anläufe der USA und deren Partner zu einem koordinierten Vorgehen waren zum Scheitern verurteilt", sagt er.

Bereits am Montagabend hatten Putin und Erdoğan vereinbart, dass Ermittler aus beiden Ländern den Mord gemeinsam aufklären sollen. 18 russische Experten fliegen nach Ankara, dort weiß man inzwischen mehr über den Attentäter Altıntaş: 22 Jahre alt, Absolvent einer Polizeischule in Izmir, seit zweieinhalb Jahren bei einer Sondereinheit in Ankara. Die Tat war offenbar geplant, Altıntaş soll sich krank gemeldet und in einem Hotel in nahe der Galerie einquartiert haben. Zutritt verschaffte er sich mit seinem Dienstausweis.

Die türkische Regierung machte die Gülen-Bewegung für das Attentat verantwortlich. Außenminister Mevlüt Cavusoglu habe seinem US-Amtskollegen John Kerry mitgeteilt, "dass Fetö hinter diesem Anschlag steckt", meldete Anadolu am Dienstagabend unter Berufung auf diplomatische Kreise in Ankara. Das wüssten sowohl die Türkei als auch Russland. Fetö ist die amtliche türkische Bezeichnung für die Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird. Die regierungsnahe Zeitung Sabah zitiert drei ehemalige Gülen-Gefährten, die überzeugt sind, der Attentäter sei Mitglied der Bewegung gewesen. Er habe eine Gülen-nahe Nachhilfeeinrichtung besucht.

Am Dienstag meldet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu, die Polizei habe mehrere Menschen aus dem Umfeld des Attentäters in Gewahrsam genommen, darunter seine Eltern und ein Onkel. Dieser soll einen leitenden Posten in einer Schule gehabt haben, die wegen ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung geschlossen wurde.

Dass Gülen für dieses und andere Attentate verantwortlich ist, davon sind in der Türkei viele überzeugt. Karlows Mörder gehöre womöglich zur Gülen-Bewegung, twitterte auch der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, ein AKP-Mann. Hinter der Tat stünden dieselben Leute, die vor einem Jahr das russische Flugzeug abgeschossen hätten. Das regierungsnahe Krawallblatt Yeni Şafak witterte gar ein Komplott der CIA: Es gebe Hinweise, dass die USA mit Gülen hinter den Angriffen steckten - mit dem Ziel, den russisch-türkischen Beziehungen zu schaden.

Der Täter schrie sein Motiv vor laufender Kamera heraus, seine Worte deuten nicht zwingend auf die Gülen-Bewegung hin. Er handle aus "Rache" für Aleppo, rief Altıntaş kurz vor seinem Tod. "Vergesst nicht Aleppo, vergesst nicht Syrien!" Und: "Wir sind diejenigen, die dem Propheten Mohammed und dem Dschihad Treue schwören" - ein Schlachtruf islamistischer Kämpfer. Die Gülen-Bewegung steht zwar für einen eher konservativen Islam, aber nicht für gewaltsamen Dschihad.

Das Attentat wirft Fragen auf. Wenn der Täter wirklich ein Gülen-Anhänger war: Wie konnte er dann der Verhaftungs- und Entlassungswelle entgehen, die seit dem gescheiterten Putsch über das Land hinwegrollt? Und hatten die türkischen Sicherheitsbehörden nicht im Sinn, dass Russlands Botschafter gefährdet sein könnte? Die Beziehung der Regierung zu Moskau mag sich verbessert haben, doch in der Bevölkerung ist die Anteilnahme am Schicksal der Menschen in Aleppo groß. Bilder der ausgebombten Stadt laufen in Dauerschleife im türkischen Fernsehen. Der Zorn richtet sich vor allem gegen die Assad-Unterstützer Russland und Iran. Vor den Botschaften der beiden Länder in Ankara gab es zuletzt immer wieder Proteste.

Der Syrienkonflikt prägte die Amtszeit des getöteten Botschafters

Beim Treffen in Moskau lobt der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu den ermordeten Diplomaten: Andrej Karlow habe alle Kraft darauf verwendet, den Dialog zwischen Russland und der Türkei zu fördern. Karlow erwischte nach seinem Dienstantritt im Juli 2013 die wohl turbulenteste Zeit in den türkisch-russischen Beziehungen seit den Kriegen zwischen dem Zarenreich und der Hohen Pforte. Drei Wochen vor seinem Tod gab er ein Interview: Er hoffe, dass Russland bald den Gasbedarf der Türkei durch das gemeinsame Projekt Turkish Stream befriedigen kann.

Ein Punkt, der die Journalisten interessierte: der mögliche Beitritt der Türkei zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in der China und Russland das Sagen haben. Präsident Erdoğan hat ja gesagt, er denke darüber nach. Klar, sagte der russische Botschafter, alles hänge von Ankara ab, und fügte diplomatisch hinzu: "Russland wird nicht darauf bestehen, dass die Türkei dafür ihre Beziehungen zur EU herunterfährt oder kappt."

Es würde wohl noch anderthalb bis zwei Jahre dauern, hatte Karlow gesagt, bis das bilaterale Handelsvolumen das Niveau erreiche, das es vor dem Abschuss des russischen Flugzeugs hatte. Damals hatte Moskau Sanktionen verhängt. Hart traf es den türkischen Tourismus - Moskau stoppte für Monate russische Charterflüge in die Türkei. Eine desaströse Saison war die Folge, die Erinnerung daran ist noch frisch. Die Reisewarnung, die der russische Vize-Außenminister am Dienstag aussprach, dürfte Ankara in höchste Unruhe versetzen. "Jeder sollte vor einer Türkei-Fahrt ernsthaft nachdenken, weil es dort fast täglich zu Terrorakten kommt", sagte er.

Die Gewalt hat die Türkei in der Tat fest im Griff, in den letzten zehn Tagen starben mehr als 60 Menschen bei zwei Attentaten. In der Nacht auf Dienstag schoss ein Mann vor der US-Botschaft in die Luft, er wurde festgenommen. Ob es einen Zusammenhang zum Mord an Karlow gibt, ist unklar.

Man werde herausfinden, wer hinter dem "verräterischen, niederträchtigen Anschlag" stecke, beteuerte Außenminister Çavuşoğlu. Und kündigte an, dass die Straße, in der Russlands Botschaft liegt, künftig Karlows Namen tragen soll.

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