Türkei und EU:Der Deal mit Erdoğan sollte ausgesetzt werden

Türkei und EU: Drehten einander schon damals den Rücken zu: Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan im Juli in Hamburg.

Drehten einander schon damals den Rücken zu: Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan im Juli in Hamburg.

(Foto: AFP)

Durch den Einmarsch im syrischen Afrin produziert die Türkei inzwischen selbst Flüchtlinge. So mutet das Flüchtlingsabkommen mit der EU grotesk an.

Kommentar von Mike Szymanski

Tagelang hat es Berlin an Mut und Entschlossenheit vermissen lassen, den Einmarsch der türkischen Armee im kurdisch kontrollierten Afrin in aller Deutlichkeit zu verurteilen. Erst nachdem das Entsetzen über die dramatische humanitäre Lage in Nordsyrien auch die Regierungsfraktionen erreicht hatte, hat Kanzlerin Merkel die Offensive als "inakzeptabel" bezeichnet. Das ist gut so, wenn auch viel zu spät; zudem ist das Vorgehen völkerrechtswidrig und nicht einfach "inakzeptabel". Warum nur fällt es der Regierung so schwer, das Offensichtliche beim Namen zu nennen?

Eine solche Offenheit würde allerdings vorerst wenig bringen. Merkel hat keineswegs vor Erdoğan kapituliert, auch wenn ihr Agieren in diesen Tagen mitunter diesen Anschein erweckt. Sie verfolgt klare Ziele: Die türkische Armee muss sich wieder zurückziehen. Der Kampf gegen die Terrormiliz IS darf nicht länger beeinträchtigt werden. Aber würde sie nur eines davon früher erreichen, wenn sie den Bruch mit Ankara riskiert? Wohl kaum.

Man kann der Regierung Gutgläubigkeit vorwerfen, wenn sie darauf setzt, dass Erdoğan einlenkt. Man kann es auch anders sehen: Die Türkei ist nicht Russland, noch nicht jedenfalls. Die Sanktionspolitik gegenüber Moskau mag zwar als Zeichen der Stärke verstanden werden. Einer Lösung des Konflikts um die Krim ist der Westen damit aber nicht wesentlich nähergekommen.

Der Umgang der Türkei mit Afrin überfordert Deutschland

Zudem kann die Bundesregierung nur begrenzt den Konflikt mit der Türkei eskalieren, ohne sich lächerlich zu machen. Als Merkel und ihr damaliger SPD-Herausforderer Martin Schulz sich im Wahlkampf in die Forderung hineinsteigerten, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei abzubrechen, mussten sie schnell erkennen, dass sie dafür in der EU keine Zustimmung finden. Auch dieses Mal sind die Partner zurückhaltend, wenn es darum geht, die Völkerrechtswidrigkeit festzustellen.

Der Westen ist auch nicht ganz unschuldig an der verworrenen Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Deutschland, Europa, der Westen insgesamt haben sich zu wenig für die Sicherheitsbelange der Türkei interessiert, der Kampf gegen den IS dominierte alles. Alle wussten, dass Ankara sich durch jene kurdischen Kräfte bedroht fühlt, die der Westen als Verbündete gegen den IS betrachtet. Nur redete kaum einer offen über die Nähe der kurdischen Anti-IS-Kämpfer zur terroristischen kurdischen Arbeiterpartei PKK in der Türkei - außer der Regierung in Ankara, die es dafür unaufhörlich tat.

Der Umgang der Türkei mit Afrin überfordert Deutschland; die EU muss hier eine gemeinsame Antwort finden. Es geht um mehr als Afrin, es geht um die Zukunft der Kurden. Sie sind dabei, alles zu verlieren. Ihre Wut schlägt in Verzweiflung und neue Gewalt um. Die Rolle und Zukunft der Türkei als Nato-Partner müssen im Verteidigungsbündnis besprochen werden. Die Möglichkeiten, auf Erdoğan einzuwirken, sind keineswegs ausgeschöpft.

Kommende Woche will der türkische Präsident sich mit den Spitzen der EU treffen. Konkret ist zu klären, ob die Gemeinschaft Ankara weitere drei Milliarden Euro für den Flüchtlingsdeal überweisen will. Die EU sollte das zunächst einmal nicht tun; sie sollte das Abkommen aussetzen, um der Türkei zu zeigen, wie ernst sie es meint. Es wäre ja geradezu grotesk, jenes Land weiter finanziell zu unterstützen, das nun selbst für Flucht und Vertreibung in Syrien verantwortlich ist.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: