Türkei und Armenien:Offene Geheimdiplomatie

Lange war unklar, ob der türkische Außenminister Babacan nach Armenien fliegen würde. Er flog. Der Besuch bringt Nachbarn einander näher, die vieles trennt.

Kai Strittmatter

Jetzt halten sie den Atem an, Türken und Armenier. Wollten zusammenkommen und wären vielleicht auch schon zusammengekommen an diesem Donnerstag, hätte es nicht das Störfeuer von dritter Seite gegeben. "In letzter Minute", wie Kaan Soyak seufzt, Unternehmer und Vorsitzender des türkisch-armenischen Wirtschaftsentwicklungsrates TABDC. "Wir alle glaubten an die Grenzöffnung am 16. April. Alles lief perfekt." Er ist extra aus Istanbul nach Eriwan gereist, in die Hauptstadt Armeniens. "Und dann kommen die Aserbaidschaner und schießen quer." Aber so ist das. Die Diplomaten können Geschichte schon planen und auszirkeln, das hält die Welt nicht davon ab, ihnen ins Handwerk zu pfuschen. Trotzdem. "Es wird kommen. Bald. Die Sache ist nur verschoben", ist sich Kaan Soyak sicher. Er liegt in der Luft, der historische Moment.

Türkei und Armenien: Ali Babacan flog nach Armenien, um die heiß diskutierte Annäherung zwischen beiden Ländern zu erörtern.

Ali Babacan flog nach Armenien, um die heiß diskutierte Annäherung zwischen beiden Ländern zu erörtern.

(Foto: Foto: dpa)

Der türkische Außenminister sieht das genauso. Ali Babacan ist nach Armenien geflogen am Donnerstag. Offiziell zum Treffen der Schwarzmeeranrainer. In Wirklichkeit ging es um die heiß diskutierte Annäherung zwischen beiden Ländern. Wegen der Hitze der Debatte in der Türkei ließ Babacan bis zum Mittwoch offen, ob er überhaupt fliegen werde. Er flog, schon das ein Zeichen. Und hatte dies zu sagen: Der Prozess schreite voran. Und die Grenzöffnung? "Zu diesem Punkt könnten wir bald gelangen.

Armenier und Türken. Die zwei Völker trennt eine Mauer seit der Vernichtung und Vertreibung der Armenier aus dem Osmanischen Reich 1915/16. Die zwei Staaten trennt eine Grenze seit Beginn ihrer Existenz. In den mehr als 85 Jahren seit Bestehen der türkischen Republik war die 325 Kilometer lange Grenze überhaupt nur einmal offen: für die zwei Jahre zwischen 1991 und 1993, als die zerfallende Sowjetunion Armenien in die Unabhängigkeit entließ. Diplomatische Beziehungen gab es nie.

Das Wort historisch war also nicht fehl am Platz, als die Geheimverhandlungen zwischen Armenien und der Türkei bekannt wurden, die die beiden seit zwei Jahren betrieben. Völker, die einander fast ein Jahrhundert lang als Erzfeind sahen. Die erstaunliche Annäherung zeige, dass "auch tiefe Traumata heilen können", heißt es in einem Bericht des Forschungsinstitutes "International Crisis Group". Einen großen Schritt tat Staatspräsident Abdullah Gül, als er im September 2008 für ein Fußballspiel beider Nationalmannschaften nach Eriwan flog und hinterher von einem positiven Besuch sprach. "Sie tranken ihre Wodkas, unser Präsident seinen Orangensaft", berichtete ein türkischer Diplomat.

Die Zeit scheint bereit. Die Türkei verfolgt seit dem Amtsantritt der AKP 2002 eine Politik der "Null Probleme" mit allen Nachbarländern. Die AKP will die Türkei zur Regionalmacht machen, zur Vermittlerin im Nahen Osten und im Kaukasus. Dazu aber muss sie erst den armenischen Knoten lösen. Armenien würde noch mehr profitieren. Das arme Land ist isoliert, muss zwei Drittel seines Handels über Georgien abwickeln.

Die Bürger in beiden Ländern wollen die Grenze offen sehen. "Die Türkei wandelt sich. Viele Dinge, die hier geschehen sind, sind in Armenien positiv aufgenommen worden", sagt Nigar Göksal, eine Istanbuler Politologin, die monatelang in Armenien und der Türkei zum Thema recherchiert hat. Dass alte Tabus bröckeln, zeigten zum Beispiel die großen Istanbuler Solidaritätsdemonstrationen nach dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, die Renovierung armenischer Kirchen in Anatolien oder die Unterschriftenkampagne türkischer Intellektueller unter dem Titel: "Wir entschuldigen uns" - für die Massaker von 1915/16. "Die Grenzen sollen aufgehen", sagt Geschäftsmann Kaan Soyak, "damit die Menschen sich von Angesicht zu Angesicht begegnen." Mehr als 40.000 Armenier leben und arbeiten ohnehin schon illegal in der Türkei.

Lesen Sie weiter, woran die Versöhnung scheitert.

Die Verhandlungen zwischen Armenien und der Türkei, so berichten es türkische Diplomaten und Zeitungen, sind eigentlich abgeschlossen. Man habe sich auf ein Dreier-Paket geeinigt: Aufnahme diplomatischer Beziehungen, Öffnung der Grenze, Diskussion der Frage "Völkermord oder nicht?" in einer gemeinsamen Historikerkommission. Die Frage ist: Wann stellt man es der Öffentlichkeit vor? Kein unwichtiges Detail bei so viel heiklem Gepäck. Da ist einerseits US-Präsident Barack Obama, den die Türken gerne so beeindrucken würden, dass er bei der traditionellen Armenier-Ansprache in Washington am 24. April auf keinen Fall das Wort "Völkermord" in den Mund nimmt.

Und da ist Aserbaidschan, der alte Freund und Alliierte der Türkei. 1993 haben die Türken die Grenze überhaupt nur aus Solidarität mit Aserbaidschan geschlossen: Damals überfiel Armenien Berg-Karabach, aserbaidschanisches Territorium, das es bis heute besetzt hält. Ankara sagt, man habe Aserbaidschan stets über den Fortgang der Verhandlungen informiert. Wieso dann die plötzlichen Alarmschreie aus Baku? Der aserbaidschanische Präsident drohte sogar damit, die Gaslieferungen in die Türkei zu reduzieren, sollten die Türken Berg-Karabach nun vergessen.

Für Premier Tayyip Erdogan ist das nicht ungefährlich, weil die Rufe bei der nationalistischen Opposition in der Türkei ein Echo finden. Der Chef der CHP, Deniz Baykal, sprach von einem "Dolchstoß" in den Rücken eines alten Freundes; die rechtsnationale MHP lud diese Woche aserbaidschanische Parlamentarierinnen nach Ankara, wo sie nun Stimmung machen gegen den türkisch-armenischen Frühling.

Die Entspannungsfreunde halten dagegen, eine Annäherung an Armenien werde auch helfen im Konflikt um Berg-Karabach. "Wir hatten 16 Jahre Stillstand. Sollen wir noch einmal 16 Jahre warten?", fragt Kaan Soyak. "Nein. Auf keinen Fall. Es ist gut für Armenien. Es ist gut für die Türkei. Es ist gut für Aserbaidschan." Der armenische Präsident Sarkissjan sagte diese Woche, er erwarte eine Grenzöffnung vor Oktober. Da spielen Türken und Armenier wieder Fußball.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: