Türkei:Unbeeindruckt von Istanbul

Das Debakel der AKP schürt zwar Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan, ändert aber noch nichts am repressiven Kurs der Justiz.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Der Kulturmäzen Osman Kavala muss trotz internationaler Kritik weiter im einem türkischen Hochsicherheitsgefängnis bleiben, mehr als 600 Tage sitzt er dort schon in U-Haft. Und am Freitag beginnt bereits der nächste Prozess gegen eine prominente Kritikerin von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, die Istanbuler CHP-Chefin Canan Kaftancioğlu. Es sieht nicht so aus, als würden in Justiz und Politik rasch Konsequenzen aus der dramatischen Niederlage gezogen, die Erdoğans Regierungspartei AKP in Istanbul gerade erlitten hat. Dort hatte am Sonntag Ekrem Imamoğlu für die Oppositionspartei CHP haushoch die Oberbürgermeisterwahl gewonnen. Es war der größte Misserfolg der AKP seit ihrer Gründung vor 18 Jahren.

An parteiinterner Kritik fehlt es allerdings auch nicht, sie wird seit dem Sonntag offener geäußert denn je. In der palastnahen Zeitung Sabah wagte ein Autor am Mittwoch Zweifel am Präsidialsystem, das dem Präsidenten erlaubt, auch Parteichef zu sein. Die konservative Yeni Şafak monierte, die Strategie der AKP habe versagt. Im selben Blatt schimpfte ein Kolumnist, man habe ihn "vom Palast ausgesperrt", weil man dort die Wahrheit nicht hören wollte. Türkiye findet, in Istanbul sei man "wie ein Lkw gegen die Wand gefahren".

Links wächst die Erwartung, dass Dissidenten in der AKP eine eigene Partei gründen

Erdoğan versprach am Dienstag vor der AKP-Fraktion, "wir werden die Fehler in allen Bereichen finden und etwas dagegen tun". Die Partei werde aber nicht auf Leute von außerhalb hören, "wir haben unsere eigenen Einschätzungen". Das regierungskritische Internetportal T24 kommentiert dazu: Die AKP sei zu Erdoğans persönlichem Klub geworden, und das sei genau das Problem. Vor allem linke Blätter schüren die Erwartung, dass AKP-Dissidenten bald eine neue Partei gründen würden, der sich mehrere Dutzend Abgeordnete anschließen könnten. Offizielle Bestätigungen dafür gibt es nicht. Derweil versucht die Regierung, den Spielraum des neuen Istanbuler Bürgermeisters und seines Kollegen in Ankara, der nun auch der Opposition angehört, einzuschränken. Die CHP machte einen entsprechenden Erlass bekannt, der den Stadträten - deren Mehrheit liegt in Istanbul und Ankara weiter bei der AKP - das Recht gibt, die Chefs städtischer Betriebe zu ernennen, von der Stadtbäckerei bis zum Parkplatzmanagement. Bislang tat dies der Oberbürgermeister.

Auch am Prozess gegen den Philanthropen Kavala, der mit dem Goethe-Institut und vielen internationalen Stiftungen zusammengearbeitet hat, gibt es nun Kritik aus der AKP. Namenlos wird sie schon länger geäußert, zum Prozessauftakt aber twitterte der Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu, er habe die 657 Seiten der Anklage gelesen und keinen Beweis dafür gefunden, dass der Unternehmer Kavala Organisator und Finanzier der Gezi-Proteste vor sechs Jahren gewesen sei, wie ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft. Dem Prozess im Hochsicherheitsgefängnis von Silivri bei Istanbul am Montag und Dienstag folgten Diplomaten aus mehreren europäischen Ländern, darunter der deutsche Konsul in Istanbul, Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth und Vertreter internationaler Stiftungen, mit denen Kavala über viele Jahre gemeinsame Kulturprojekte organisierte. Der 62-Jährige nannte die Anklage vor Gericht ein "Phantasie-Szenario". Als das Gericht am Dienstagabend verkündete, Kavala bleibe in Haft, gab es vor dem Saal laute Proteste. Am Mittwoch wurde bekannt, dass der Vorsitzende Richter für Haftentlassung und Hausarrest plädiert hatte, er aber überstimmt wurde. Am 18. Juli wird der Prozess fortgesetzt.

Im Prozess gegen die Istanbuler CHP-Chefin Canan Kaftancioğlu geht es um 35 Tweets. Gefordert werden 17 Jahre Haft wegen Beleidigung des Präsidenten und der Republik und wegen "Terrorpropaganda". Kaftancioğlu gehört zu den Architektinnen des Sieges von Ekrem Imamoğlu. Ihre Partei hält den Prozess für einen "Racheakt".

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