Süddeutsche Zeitung

Türkei:Entscheidender Engpass

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Die Türkei pflegt gute Beziehungen zu Russland wie zur Ukraine und ist Herrin der Bosporus-Passage zum Schwarzen Meer. Nun erinnert Ankara daran, dass es die Durchfahrt von Kriegsschiffen stoppen könnte.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

In seiner allergrößten Not hatte der ukrainische Kriegspräsident Wolodimir Selenskij die Türkei ganz gezielt in eine Zwangslage gebracht. Ankara habe zugesagt, die Bosporus-Passage für russische Kriegsschiffe zu sperren, twitterte der ukrainische Staatschef nach einem Telefonat mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan. Die Türkei dementierte die angebliche Zusage an die mit ihr gut befreundete Ukraine anfangs, diplomatisch verklausuliert. Ankara pflegt gute Beziehungen zu Kiew und zu Moskau. Doch dann stellten sowohl der türkische Außenminister als auch Erdoğans Sprecher klar, dass Ankara die vermeintliche "Spezialoperation" der russischen Armee in der Ukraine als genau das betrachtet, was es ist: als offenen Krieg. Und damit droht dem Kreml nun, dass seine Kriegsschiffe nicht mehr durch die Meerengen von Bosporus und Dardanellen fahren dürfen.

Fregatten, Landungsschiffe, Versorger oder U-Boote mit der blau-weißen Flagge der russischen Kriegsmarine gehören an Istanbuls Goldenem Horn zum Alltag. Moskaus Kriegsschiffe fahren durch die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus hinauf ins Schwarze Meer oder auf umgekehrtem Weg hinunter ins Mittelmeer. Das ist der Geografie geschuldet: Vom Schwarzen Meer aus hat die russische Flotte keinen anderen Zugang zum Mittelmeer und den Ozeanen.

Laut Vertrag von Montreux können Flotten im Krieg liegender Anrainer nicht durch die Meerenge

Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sagte nach Selenskijs Tweet, eine Sperrung von Bosporus, Marmarameer und Dardanellen, die das Schwarze Meer als Trio-Passage mit dem Mittelmeer verbinden, sei für den Kriegsfall im Vertrag von Montreux genau geregelt. Daran halte man sich. "Die Türkei kann die Durchfahrt von Kriegsschiffen durch die Meerenge stoppen", so der Minister. "Aber im Vertrag steht auch noch etwas anderes: Wenn die Schiffe der kriegführenden Länder in ihre Heimathäfen zurückkehren, muss es gestattet werden."

Erst müsse man feststellen, ob völkerrechtlich gesehen wirklich Krieg herrsche, so Ankaras Außenminister anfangs: "Unsere Experten prüfen das." Moskau nennt den Überfall auf das Nachbarland eine Art friedenserhaltende "Spezialoperation", aber völkerrechtlich dürfte dies kaum tragen. Offenbar tendiert Ankara inzwischen aber zur ukrainischen Position: Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin twitterte am Sonntag, der russisch-ukrainische Waffengang sei "ein Krieg".

Der Vertrag von Montreux regelt die Durchfahrt durch die Meerengen. Wenn die Türkei im Krieg liegt, kann sie die Passage nach Gutdünken sperren - sowohl für die internationale Handelsschifffahrt als auch für Kriegsschiffe. Ist Ankara nicht an einem Krieg zwischen anderen Schwarzmeerstaaten beteiligt, gelten andere Regeln. Dann bleibt die Passage offen. Schiffe der Flotten der im Krieg liegenden Anrainer können aber nicht länger durch Bosporus oder Dardanellen fahren. Egal in welche Richtung.

Die Durchfahrten der russischen Kriegsmarine sind Machtdemonstrationen

Demnach dürften derzeit weder ukrainische noch russische Kriegsschiffe passieren - außer aber, sie wollten in ihren Heimathafen. Denn der Montreux-Vertrag mit seinen 29 Artikeln gestattet dies. Demnach dürften aber nur Schiffe der russischen Schwarzmeer-Flotte - eine der insgesamt fünf russischen Kriegsflotten - weiterhin ins Schwarze Meer. Im Fall der Ukraine ist dies weniger wichtig: Sie hat kaum Kriegsschiffe. Ins Mittelmeer dürften russische Schiffe gar nicht mehr. Das aber wäre ein Affront: Der Kreml versorgt über diese Route seine Truppen in Syrien.

Der Montreux-Vertrag ist eine Nachgeburt des Ersten Weltkriegs. Er wurde 1936 geschlossen und gab der jungen türkischen Republik, der Nachfolgerin des im Nachgang zum Weltkrieg zerschlagenen Osmanen-Reichs, die Oberhoheit über die etwa 303 Kilometer lange Passage zurück. Sie ist das gewichtigste geopolitische Pfand Ankaras.

Aber Russland versteht sich selbst als Schwarzmeer-Vormacht. Es schickt normalerweise weit mehr Kriegsschiffe durch die Passage als andere Staaten: Die Durchfahrten sind eine Machtdemonstration. Sollte die Nato nun häufiger Kriegsschiffe verlegen wollen, um Moskau abzuschrecken, dürfte der Druck steigen. Die Türkei ist Nato-Staat, aber auch die Zufahrt von Kriegsschiffen von Nichtanrainern ist im Vertrag geregelt. Gestattet ist sie nur kleineren Schiffen - keinen Flugzeugträgern - und der Aufenthalt im Schwarzmeer ist auf 21 Tage begrenzt.

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