Für Zekeriya Çakmak, Türkisch- und Literaturlehrer am Istanbuler Galatasaray-Gymnasium, beginnt das neue Schuljahr mit dem Fach: allerneueste Geschichte. Am 15. Juli hat ein versuchter Militärputsch die Türkei erschüttert. Das Land nach den Ferien ist ein anderes als vor den Ferien, das muss den Schülern erklärt werden. Çakmaks Schule startet am 19. September deshalb mit einer Projektwoche. Erste Instruktionen vom Erziehungsministerium sind eingetroffen: Die erste Schulwoche möge man einem "Programm zum Sieg der Demokratie" widmen. Heldenkunde.
Klar, auch Çakmak ist froh, dass die Putschisten keinen Erfolg hatten und keine Militärdiktatur herrscht. In diesem Fall wäre die Türkei wohl in den Bürgerkrieg abgerutscht und an Unterricht überhaupt nicht zu denken. Aber auch so ist die Situation für ihn und die anderen etwa 900 000 Lehrer schwer genug. Wie erklärt man den Schülern, dass der eine oder andere Kollege nicht mehr unterrichtet? Und wohl auch nie wieder zurückkehren wird? Çakmak seufzt. Er ist 55 Jahre alt, seit 32 Jahren Lehrer, seit 26 Jahren Gewerkschafter. "Es ist eine Katastrophe."
Zwar haben sich in der blutigen Nacht des 15. Juli Soldaten gegen die Regierung aufgelehnt und nicht Lehrer. Rein zahlenmäßig ist aber kein anderer Bereich der Gesellschaft von den danach folgenden "Säuberungsmaßnahmen" der Regierung so betroffen wie das Bildungswesen. Çakmak schätzt, dass mehr als 15 000 Lehrer nie wieder vor einer Klasse stehen werden. Weitere 45 000 Pädagogen seien vorübergehend suspendiert worden. Alle standen quasi über Nacht unter Verdacht, Unterstützer des Putsches gewesen zu sein. Wie kann das sein?
Die Regierung vermutet als Drahtzieher den islamischen Prediger Fethullah Gülen, den einstigen Weggefährten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Gülen lebt zwar im Exil in den USA, hat aber in der Türkei über Jahrzehnte ein Netzwerk an Anhängern aufgebaut. Er formte eine fromme Gegenelite zum säkularen, kemalistischen Establishment, das Jahrzehnte das Land kontrollierte. Gülen schuf keine politische Bewegung. Sein Schlüssel, um Einfluss zu gewinnen, lag darin, seine Anhänger gut auszubilden und im Staatsapparat aufsteigen zu lassen. Gülens Bewegung ist vor allem eine Bildungsbewegung.
Türkische Chronik (IV):Man muss die Dinge beim Namen nennen
Aber die Regierungen in Europa machen sich immer noch Illusionen über ihre Politik mit Ankara. Dabei steht auch Kanzlerin Merkel in der Pflicht, der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken.
"Ich bin ein Kemalist, ein Linker, ein Atheist." Gülen? "Niemals!"
Jahrelang profitierte Erdoğan von Gülens Kontakten. Erst nachdem es 2013 endgültig zum Bruch zwischen beiden Männern kam, verfolgt er die "Gülenisten", die er heute als Terroristen bezeichnet. Nach dem Putschversuch rückten die Schulen und Hochschulen sofort in den Fokus der Regierung.
Ahmet Mantaş, Kunstlehrer an einer Mittelstufenschule im knapp fünf Autostunden von Istanbul entfernten Çanakkale, wurde am 23. August von seinem Direktor angerufen. "Sie kennen das Verfahren. Wenn Sie morgen in mein Büro kommen, werde ich Ihnen ein Schreiben aushändigen", habe sein Vorgesetzter gesagt. "Ich habe sofort verstanden, was er meint. Ich bin suspendiert."
Im Brief des Amtes für Bildungswesen heißt es, der 48-Jährige stehe im Verdacht, Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein oder die Organisation unterstützt zu haben. Wieso die Behörde das annimmt, weiß Mantaş nicht. "Ich bin ein Kemalist, ein Linker, ein Atheist." Gülen? "Niemals!" Als die Regierung Gülen noch hofierte, habe er schon davor gewarnt, dessen Anhängern die Bildung zu überlassen. Überall im Land waren Gülen-Schulen entstanden. Nun habe eine "Hexenjagd" begonnen, sagen die Gewerkschafter. Die Behörden arbeiteten einen Punktekatalog ab: Wer eine Gülen-Schule besucht hat oder seine Kinder auf eine schickt: Gülenist! Wer ein Konto bei einer Gülen-nahen Bank hat: Gülenist! Mitgliedschaft in der Gülen-nahen Gewerkschaft: Gülenist!
Wer suspendiert ist, bekommt immerhin noch zwei Drittel des Gehalts, aber die Prüfung der Vorwürfe ziehe sich über Monate, sagt die Gewerkschaft. Sie beklagt, dass die Betroffenen kaum Möglichkeit bekommen, sich zu verteidigen. Die Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, kennt im Moment keine Milde. Ein flüchtiger Kommentar im Internet genügt, um dieser Tage das Ende der Karriere zu riskieren. Andere suspendierte Lehrer erzählten Mantaş, dass ihre Freunde und Verwandten auf Distanz gingen. "Die Gesellschaft kann grausam sein", sagt Mantaş.
Die Stimmung an den Schulen ist angespannt. "Die Lehrer sind im Umgang miteinander zurückhaltender geworden", sagt Işık Uçar, Lehrerin an einer Berufsschule im Viertel Etiler im Norden Istanbuls. Niemand will einen Fehler machen, niemand der nächste sein.
Die Regierung hat eingeräumt, dass es bei den Massenentlassungen und Suspendierungen zu Fehlern gekommen sein könnte. "Wir werden uns das anschauen", versprach Premier Binali Yıldırım. Bei der Oppositionspartei CHP sind deren Angaben zufolge Tausende Beschwerden eingegangen. Das hielt die Regierung nicht davon ab, weitere 10 000 Lehrer zu suspendieren. Dieses Mal wegen angeblicher Nähe zur kurdischen Terrororganisation PKK. Jetzt gilt es, zum 19. September eine gewaltige Lücke zu stopfen. Bildungsminister İsmet Yılmaz hat vor wenigen Tagen erklärt, dass Auswahlgespräche für 15 000 neue Lehrer liefen. Mit dem Finanzministerium steht er in Verhandlungen für ein höheres Budget. "Wir brauchen 30 000 Lehrer in kürzester Zeit, damit es im neuen Schuljahr an nichts fehlt."
Gewerkschafter Çakmak ist alarmiert. Das Problem ist weniger, Personal zu finden, zwischen 200 000 und 300 000 Lehrer seien arbeitslos. Er befürchtet vielmehr, dass die islamisch-konservative AKP-Regierung die Gelegenheit nutzt, ihr nahestehende Pädagogen im Schuldienst unterzubringen. Es ginge um mehr als nur darum, ein Vakuum zu füllen. Seit die AKP regiert, versuche sie, der Religion im Unterricht mehr Platz einzuräumen.
Erdoğan träumt von einer frommen Generation. Was das praktisch heißt, schildert Berufsschullehrerin Işık Uçar. Sie bildet Jugendliche für die Tourismusbranche aus, die einmal in den Hotels und Restaurants in den Urlaubsgebieten arbeiten sollen. Bis vor zwei, drei Jahren brachte sie den Schülern noch bei, wie man Cocktails mixt. Mittlerweile ist das aus dem Lehrplan gestrichen, Alkohol habe an Schulen nicht zu suchen. Işık Uçar hat in ihren Klassen nur Kinder, die in der AKP-Zeit aufgewachsen sind. Die nichts anderes kennen als Erdoğan und seine Partei.
Die neue Generation nimmt schon Gestalt an: "Es gibt Schüler, die Republikgründer Atatürk nicht mögen, nur weil er Rakı getrunken hat", erzählt sie. Die Lehrer bekommen nicht nur Druck von oben, sondern auch von unten. Gewerkschafter Çakmak sagt: "Jetzt sieht man, was passiert, wenn man die Trennung von Staat und Religion aufweicht, wie das die Regierung gemacht hat." Er glaubt nur nicht, dass sich viel ändern wird: Gülens Fromme müssten gehen, Erdoğans Fromme übernehmen.