Seit mehr als einem Jahr hoffen die Türken sehnlich auf die Rückkehr der Touristen und dann sehen sie das: Mit einem Werbevideo wollte Tourismusminister Mehmet Nuri Ersoy öffentlichkeitswirksam Corona-Entwarnung geben, international für die preiswerten Hotels, sonnigen Strände und weltberühmten Sehenswürdigkeiten seines Landes die Trommel rühren. Freundlich lächelnde Gesichter waren in dem Film zu sehen, hinter gelben Mund-Nasen-Masken, auf denen steht: "Genießen Sie! Ich bin geimpft!"
Das war gut gemeint. Die Regierung hatte schließlich versprochen, dass alle im Tourismus tätigen Menschen gegen Corona geimpft würden, damit die Besucher aus Deutschland, Frankreich oder Russland keine Angst vor Infektionen haben müssten in türkischen Hotels, im Shuttle-Bus oder an den Flughäfen. Doch bei den eigenen Bürgern kam das Werbevideo nicht gut an: Der Minister erntete für seinen Trailer mit den Tourismusmitarbeitern, die geimpft und fröhlich Gäste erwarten, keinen Applaus, sondern einen Shitstorm. Und das von seiner eigenen Klientel.
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Kaum hatte das Ministerium das Werbevideo geteilt, liefen die sozialen Medien heiß, die Presse zitierte zornige Hotelangestellte und fluchende Restaurantmitarbeiter: Ihr erniedrigt uns, ihr nehmt uns unsere Ehre. Oder, konkreter: "Ihr habt schon die letzte Saison vermasselt. Selbst mit euren Lügen habt ihr keine Urlauber ins Land geholt." Minister Ersoy, der selbst aus dem Tourismusgeschäft kommt, mache sich lustig über eben die Menschen, die mangels Urlaubern seit einem Jahr um ihre nackte Existenzen fürchten müssten. Ersoy solle gefälligst zurücktreten.
Pleitewelle in der Tourismusbranche
Das hat der Minister bisher zwar nicht getan, er hat aber zumindest das umstrittene Masken-Video zurückgezogen. Der Schaden scheint mit oder ohne den Film aber schwer gutzumachen. Nach dem jüngsten 17-Tage-Lockdown sind die Türken zermürbt: Die Menschen durften nur zum Einkaufen auf die Straßen, der Ramadan wie auch die krönenden Bayram-Feiertage wurden ihnen vermiest. Nun warten alle auf Gäste,, der Tourismus ist ein wichtiger Devisenbringer, das Urlaubsgeschäft stand 2019 für zwölf Prozent des Wirtschaftsaufkommens.
Doch die Perspektiven sind schlecht. Fachleute fürchten, dass nach dem Urlaubsjahr 2020 auch das Jahr 2021 abgeschrieben und mit einer regelrechten Pleitewelle in der Branche gerechnet werden müsse. Und das, während Schön-Wetter-Konkurrenten wie Griechenland und Italien sich dem Fremdenverkehr bereits wieder öffnen.
Das soll eigentlich auch in der Türkei geschehen, doch das Land bleibt Hochrisikogebiet. Und nicht nur Mediziner und Covid-Experten ahnen, dass die vom Staatspräsidenten vorgegebenen Zahlen nicht zu erfüllen sind. Sie fürchten, dass sie gegebenenfalls wie im vergangenen Jahr geschönt werden: Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat angeordnet, die Zahl der Neuinfektionen in kürzester Zeit auf täglich 5000 zu senken. Vor dem Lockdown hatte die Zahl bei mehr als 60 000 Fällen gelegen, nun pendelt sie sich bei etwa 11 000 Fällen ein.
Ausgangssperre und offene Strände
Der Lockdown wird daher bis Anfang Juni auch noch nicht vollständig aufgehoben. Zwar öffnen Malls und Geschäfte wieder, bislang waren nur Supermärkte und Lebensmittelläden zugänglich, ab 21 Uhr herrscht Ausgangssperre. Und am Wochenende gilt ein 24-Stunden-Ausgehverbot, nur das Einkaufen von Lebensmitteln bleibt gestattet. Museen sind zu, Restaurants und Cafés bleiben auch unter der Woche geschlossen, sie dürfen nur an die Haustür liefern. Wann die Kinder wieder zur Schule gehen, muss noch geklärt werden.
Doch das strenge Regime gilt wie schon während des 17-Tage- Lockdowns nicht für alle: Touristen stehen die Innenstädte, Parks und Strände offen, damit wenigstens etwas Geld verdient und der Ruf als ebenso lohnendes wie preiswertes Urlaubsziel aufrechterhalten werden kann. Und diejenigen Türken, die in systemrelevanten Berufen und Betrieben arbeiten, durften auch während des Drei-Wochen-Lockdowns zur Arbeit gehen und Geld verdienen: Millionen Menschen aus der arbeitenden Bevölkerung sollen von der Sperre ausgenommen worden sein, in den großen Industrievorstädten ging das Leben weitgehend wie gewohnt weiter, andere bekamen Sondergenehmigungen dank Beziehungen.
Die anderen aber gehen leer aus. Längst hat Corona das soziale Klima verändert. Die offizielle Inflation liegt bereits bei über 17 Prozent, manche Experten gehen von real 30 Prozent aus. Das Volk verarmt, in den Medien häufen sich Berichte über Armuts-Suizide. Die Wirtschaft lahmt zwar schon seit 2019, doch Covid-19 hat alles dramatisch beschleunigt: Nach einer aktuellen Umfrage leben inzwischen knapp 27 Prozent unter der Armutsgrenze. 53 Prozent schaffen es mit aller Not, mit ihren Familien weiter einigermaßen erträglich zu leben - in dem Land, das sich Urlaubern weiter als Paradies präsentiert.