Offensive in Nordsyrien:Der Krieg erreicht auch die Türkei

Offensive in Nordsyrien: Pro-türkische syrische Kämpfer fahren mit einem gepanzerten Personaltransporter über die Grenze nach Syrien.

Pro-türkische syrische Kämpfer fahren mit einem gepanzerten Personaltransporter über die Grenze nach Syrien.

(Foto: Nazeer Al-Khatib/AFP)
  • Vor wenigen Tagen hat der türkische Präsident Erdoğan den Befehl zum Angriff auf Syrien gegeben, nun gibt es auf beiden Seiten bereits zivile Opfer.
  • Die politischen Folgen der Militäraktion sind ebenfalls beträchtlich. Die Türkei hat sich international isoliert.
  • Viele innenpolitische Folgen der Operation dürften allerdings ganz im Sinne Erdoğans sein.

Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Erst vor wenigen Tagen hat Recep Tayyip Erdoğan den Befehl zum Angriff gegeben, und schon wird klar, wie gefährlich die türkische Militäroperation nicht nur für Syrien ist, sondern auch für die Türkei. Am Freitag wurde in der türkischen Grenzstadt Akçakale ein neun Monate alter Junge zu Grabe getragen. Vier Soldaten flankierten den kleinen Sarg, auf dem eine türkische Fahne lag. Alle Toten auf türkischer Seite wurden zu "Şehit", zu Märtyrern, erklärt, als seien sie im Kampf gefallen. Der Junge war ein Flüchtlingskind. In und um Akçakale, einer Stadt mit circa 100 000 Einwohnern, leben Tausende Syrer, die vor dem seit acht Jahren anhaltenden Bürgerkrieg geflohen sind. Bis Freitagabend wurden auf türkischer Seite mindestens 17 Tote gezählt.

Auch auf syrischer Seite gibt es tote Zivilisten. Der Kurdische Halbmond berichtete von mindestens sieben Getöteten und vielen Verletzten. Mehr als 70 000 Menschen seien auf der Flucht, meldeten mehrere Organisationen der UN. Auch Dämme, Kraftwerke und Ölfelder seien getroffen worden. In einem fünf Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze seien bis zu 450 000 Menschen in Gefahr, wenn die Konfliktparteien nicht maximale Zurückhaltung übten. Danach sieht es nicht aus. Die türkische Armee sagte, sie habe bereits 342 "Terroristen", wie sie die Kämpfer der kurdischen Milizen nennt, getötet. Auch türkische Soldaten starben. Auf der türkischen Seite der Grenze schlugen ebenfalls schon 170 Geschosse ein, sagte der Gouverneur der Provinz Şanlıurfa.

Auch auf ein Hotel in Nusaybin, in dem sich viele Journalisten aufhielten, wurde am Freitag geschossen, mit Scharfschützengewehren vom syrischen Qamischlo aus. Zwei Reporter wurden verletzt. Vom Balkon des Hotels aus waren zahlreiche Kameras auf die Grenze gerichtet. Die politischen Folgen der Militäraktion sind beträchtlich. Die Türkei hat sich isoliert.

Die USA dringen auf einen Abbruch der Militäroffensive und drohen der Regierung in Ankara Sanktionen an. "Wenn wir müssen, können wir die türkische Wirtschaft stilllegen", warnte Finanzminister Steven Mnuchin am Freitag. "Das sind sehr harte Sanktionen. Ich hoffe, dass wir sie nicht einsetzen müssen." Sie könnten "jede Person mit Verbindungen zur türkischen Regierung" treffen.

Die EU will beim Gipfel ihrer Staats- und Regierungschefs in der kommenden Woche über Sanktionen beraten. Nach dem Einmarsch in Nordsyrien lägen Strafmaßnahmen als Option auf dem Tisch, sagte die französische Staatssekretärin für EU-Angelegenheiten, Amélie de Montchalin, im Radio France Inter. Sie widersprach der Aussage, Europa sei machtlos.

Schweden fordert Waffenembargo gegen die Türkei

Erdoğan hatte zuvor mit einer neuen Flüchtlingswelle gedroht, sollte Europa der Türkei vorwerfen, sie sei "Besatzungsmacht" in Syrien. Schweden sprach sich am Freitag offen für ein EU-weites Waffenembargo gegen das Land aus. Im nächsten Schritt wolle man bei einer Verschlechterung der Lage auch "Wirtschaftssanktionen oder Sanktionen gegen Einzelpersonen" vorschlagen, sagte Außenministerin Ann Linde.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach einem Blitzbesuch bei Erdoğan in Istanbul: Er habe seine "ernsten Bedenken hinsichtlich der Destabilisierung der Region" geäußert. Die Türkei sei ein wichtiger Nato-Partner, sagte Stoltenberg, das bedeute aber auch "eine große Verantwortung". US-Präsident Donald Trump bot sich gleichzeitig als "Vermittler" an. Letzteres dürfte ihm angesichts des schwer belasteten Verhältnisses zu Ankara kaum gelingen. Im Gegenteil: Das Misstrauen gegen Amerika, in der Türkei ohnehin stark, dürfte wachsen. Die Zeitung Cumhuriyet titelte: "Amerikanische Bomben" und zeigte ein Foto mit einem verletzten türkischen Kind.

Die türkische Opposition ist gespalten

Washington hatte die kurdische YPG-Miliz - für die Türkei eine Terrororganisation wie die kurdische PKK - noch bis vor Kurzem mit Waffen versorgt. Cumhuriyet war bislang regierungskritisch, nun ist der allergrößte Teil der Opposition auf eine patriotische Linie eingeschwenkt. Nur die Kurden scheren aus der Einheitsfront aus. Die Folge: Ihre Allianz mit dem Rest der Opposition steht vor dem Bruch. Dieser politische Kollateralschaden dürfte ganz im Sinne Erdoğans sein. Ein stilles Bündnis aus Kurden, Säkularen und Nationalliberalen hatte ihm bei den jüngsten Wahlen seine bislang schwerste Niederlage seit der Machtübernahme der AKP 2002 bereitet.

Falls es spürbare wirtschaftliche Sanktionen gibt, dürfte Erdoğan versuchen, die Schuld ganz auf Washington abzuschieben. Die Zahl der Arbeitslosen ist innerhalb eines Jahres schon um mehr als eine halbe Million gestiegen. Der Kurs der türkischen Lira sackt seit Beginn des Krieges weiter ab. Auch persönliche Freiheiten werden wieder eingeschränkt. Dutzende Türken, die sich in sozialen Medien kritisch zum Krieg äußerten, wurden festgenommen.

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