Süddeutsche Zeitung

Türkei:"Sprache bereitet oft grausame Aktionen vor"

Der türkische Präsident Erdoğan spricht von "Säuberung", wenn es um Entlassungen und Verhaftungen geht. Sprachwissenschaftler Thomas Niehr erklärt, wie gefährlich diese Wortwahl ist.

Interview von Lars Langenau

SZ.de: Herr Niehr, der türkische Präsident Erdoğan verwendet seit dem gescheiterten Putsch Wörter wie "Säuberung" (türkisch: "temizleme"), "Metastasen ausmerzen" und "Viren". Was für Assoziationen löst das bei Ihnen aus?

Thomas Niehr: In diesem Vokabular steckt eine Handlungsaufforderung: Wenn ich von "Säuberung" spreche, dann gehe ich davon aus, dass etwas schmutzig ist. Wenn ich von "Metastasen" spreche, setze ich ein Krebsgeschwür voraus - mithin eine lebensbedrohliche Krankheit. Es wird immer impliziert, dass ich dagegen vorgehen muss.

Was ist daran so gefährlich?

Das kann sich noch fortsetzen, wie wir aus der Geschichte wissen. Auch früher wurden Menschen schon gleichgesetzt mit Krankheiten, Schmutz, Ungeziefer. Darin steckt auch der Appell, Maßnahmen zu ergreifen, sich zu schützen. Ohne dass man das explizit noch sagen muss, wird dazu aufgerufen, diese Menschen auszulöschen, zu vernichten. Wenn man im Bild bleibt, ist man dann bei der Wahl der Mittel zum Schutz und der Bekämpfung nicht zimperlich. Da wird dann "ausgemerzt", "ausgerottet" und so weiter. Solch ein Sprachgebrauch enthemmt.

Haben Sie Beispiele aus der Geschichte, wo das dann passiert ist?

Gerade wir Deutschen kennen ja dieses Vokabular. Jeder mit ein wenig historischem Bewusstsein fühlt sich natürlich an den Sprachgebrauch der Nazis erinnert. Da war es normal, Juden als "Parasiten", "Volksschädlinge", als "Krankheit am deutschen Volkskörper" und Ähnliches zu bezeichnen.

Wann kippt so etwas und kann dazu führen, dass Menschen handeln?

Wenn man so etwas über Jahre propagiert, dann geht das wie selbstverständlich in das Denken von Menschen ein. Und wenn es sich dort festgesetzt hat, dann werden die so bezeichneten Menschen nicht mehr als Menschen betrachtet, sondern wirklich als Ungeziefer, das vernichtet werden muss. Es erscheint dann als eine gute Tat, sie zu vernichten. Genau das ist in Deutschland bis 1945 passiert.

Haben Sie noch andere Beispiele?

Es ist eine schon alte Technik, den politischen Gegner abzuwerten. Den Begriff der "Säuberung" haben auch schon Lenin und Stalin verwendet. Das endete im Massenmord. Wir kennen den unseligen Begriff der "ethnischen Säuberungen" aus dem Jugoslawienkrieg. Auch hier kann man sich naiv zunächst Hygienemaßnahmen vorstellen, doch jeder konnte wissen, dass mit diesem Ausdruck auch "Maßnahmen" wie psychische und physische Gewalt umschrieben wurden.

Man kennt das auch aus Ruanda, als die Hutu-Mehrheit die Tutsi in einer Radio-Dauerschleife als Kakerlaken bezeichneten.

Genau, und auch hier ist wieder der Appellcharakter zu sehen: Was macht man mit Kakerlaken? Man schlägt sie tot, bevor sie sich massenhaft vermehren.

Erdoğan verwendet auch die Wörter "Grotte" oder "Höhle", in die sich seine Gegner zurückziehen sollen. Was will er seinen Zuhöreren damit sagen?

Er entmenschlicht auch damit seine Gegner, macht sie zu wilden Tieren oder unzivilisierten Wesen, die nicht in Häusern wohnen und nur ihren Instinkten folgen.

Erdoğan benutzt all diese Begriffe nicht rassistisch. Man kann ihm zugutehalten, dass er gerade selbst um Haaresbreite seiner Ermordung entgangen ist. Kann man damit seine Wortwahl entschuldigen?

Entschuldigungen kann man sich viele einfallen lassen. Erdoğan spricht natürlich aus einer bestimmten Perspektive und es ist verständlich, dass jemand, der gerade einen Mordversuch überlebte, empört ist. Nur ist die Türkei eine Demokratie und es ist dort ja gerade eine beispiellose Verhaftungs- und Entlassungswelle im Gang. Selbst wenn er in Lagern denkt, rechtfertigt das keinesfalls seinen Sprachgebrauch.

Aber in der Türkei rechnet niemand mit einem Massenmord.

Das ist richtig. Damit zu rechnen, würde auch zu weit führen. Aber man muss das sorgsam beobachten. Schließlich gibt es Zehntausende Verhaftungen und deshalb sage ich: Wehret den Anfängen! Sprache bereitet eben häufig grausame Aktionen vor, oft indem der Gegner zum Nichtmenschen gemacht wird.

Geht es letztlich immer um "wir" gegen "die anderen"?

Auf jeden Fall gilt: "Wir" sind die, die auf der richtigen Seite stehen und "die anderen" sind die, die ausgegrenzt werden. Sie werden oft nicht mehr als Menschen mit einer anderen Meinung wahrgenommen, sondern eben als Krankheit, mithin als Bedrohung.

Manche benutzen solch ein Vokabular auch unbedacht ...

Denen will ich auch nichts unterstellen, aber die Gefahr ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Man muss dafür sensibilisieren, dass das nicht nur ein unangemessener Sprachgebrauch ist, sondern ein Spiel mit dem Feuer.

Selbst in deutschen Medien wird das Wort "Säuberung" in Bezug auf Erdoğan nicht immer in Anführungsstriche gesetzt.

Da gibt es auch noch andere Beispiele: Wolfgang Schäuble sprach vor nicht allzu langer Zeit von einer "Flüchtlingslawine". Ich fand es beruhigend, dass Ihre Kollegen von der FAZ diesen Begriff umgehend in Anführungszeichen setzten. Noch in den 80er Jahren war so etwas nicht selbstverständlich, da wurden Begriffe wie "Flüchtlingsstrom" oder "Flüchtlingswelle" ganz ungerührt verwendet. Angela Merkel sprach kürzlich von einer "Flüchtlingsbewegung", dieses Wort fand ich viel unproblematischer.

Begriffe wie "Lawine", "Strom", "Welle" sind also immer Kampfbegriffe?

Zumindest wenn sie nicht völlig gedankenlos verwendet werden. Interessanterweise erlebt ein Begriff, wie die völlig diskreditierte "Endlösung" in anderen Zusammenhängen gerade eine Wiederbelebung. Denken Sie etwa an "Endlösung" der Atommüllfrage. Im Gegensatz zu Politikern, die meist wissen, wie man Wörter bewusst einsetzt, unterstelle ich anderen Menschen dabei auch keinen bösen Willen, sondern eher Gedankenlosigkeit oder Geschichtsvergessenheit. Auch das Wort "Sonderbehandlung" taucht inzwischen wieder auf, obwohl es ein übler Nazibegriff ist.

Gibt es noch andere belastete Wörter?

Jede Menge, aber das verändert sich natürlich: "Rasse", "Blut und Boden". "Mädel" kennen wir von der Naziorganisation Bund Deutscher Mädel. Der Ausdruck wird heute eher flapsig verwendet. Das ist auch unproblematisch, denn man muss sich immer den Kontext anschauen, in dem solche Wörter verwendet werden. Direkt nach 1945 war das Wort "Lager" belastet, heute haben wir damit kein Problem mehr. Nur wenn jemand ein Flüchtlingslager als "Konzentrationslager" bezeichnen würde, wird es problematisch.

Ist das eine Spezialität der politischen Rechten?

Die können das besonders gut, weil sie politisch aufgeladene und belastete Vokabeln mit traumwandlerischer Sicherheit gezielt verwenden. Man kann ihnen nichts nachweisen, aber die, die es hören sollen, die hören dann auch diese Wörter ganz genauso wie sie gemeint sind.

Zur Person

Der Sprachwissenschaftler Thomas Niehr, 55, lehrt an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen und ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft "Sprache in der Politik".

Hier bezeichnen wir Attentäter als "Terroristen", woanders sind es "Freiheitskämpfer". Kann Sprache überhaupt objektiv sein?

Sprache ist immer perspektivengebunden. Mithin kann es eine objektive Sprache nicht geben. Durch Sprache schaffen wir erst unsere Wirklichkeit. Natürlich passiert da vieles auch unbewusst. Aber gerade in politischen Auseinandersetzungen ist Sprache das Mittel der Wahl, um eine bestimmte Sicht der Dinge zu propagieren.

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