Kurden-Konflikt:Die Türkei und die PKK - eine Geschichte von Schmerz ohne Ende

Kurden-Konflikt: Der Krieg bestimmt das Leben der Menschen - auch in der kurdischen Metropole Diyarbakır.

Der Krieg bestimmt das Leben der Menschen - auch in der kurdischen Metropole Diyarbakır.

(Foto: Ilyas Akengin/AFP)

In der Kleinstadt Eruh beginnt vor mehr als dreißig Jahren der bewaffnete Kampf der PKK gegen den türkischen Staat. Eine Reise an die Anfänge des Konflikts, als "terör" noch keine Alltagsvokabel war.

Von Mike Szymanski

Als Süleyman Aydın 1984 zum Militär geht, haben sie im Dorf Mertekli seinen Abschied gefeiert. Sie machten Musik. Auf den Tisch kam nur das Beste. Einer von ihnen brach zu einem Abenteuer auf. "Wovor sollten wir damals Angst haben?", sagt Cemal Aydın, sein Bruder. PKK? Nie gehört.

Die Türkei und die PKK. Das ist heute eine Geschichte von Schmerz ohne Ende. Mehr als 40 000 Tote in mehr als 30 Jahren. Dies ist die Reise an den Anfang des Konflikts. Eine Reise in eine Zeit, als terör noch keine Alltagsvokabel war. Die Reise führt in ein Dorf in der osttürkischen Provinz Erzincan. Auf einen Friedhof am Rande schneebedeckter Berge. Süleyman Aydın liegt dort begraben. Der Sohn einer Bauernfamilie wurde 19 Jahre alt. Er ist der erste Terrortote der PKK. Gestorben am 15. August 1984.

Die Reise führt nach Eruh, in eine Kleinstadt im Südosten. Hier hat die PKK ihren Zerstörungswillen beurkundet. Und sie führt nach Sur, in das von Kämpfen gezeichnete Altstadtviertel von Diyarbakır. Dort trifft man eine Frau, eine Kurdin. Grüne Strähne im schwarzen Haar, immer eine selbst gedrehte Zigarette in der Hand. Sie ist älter als der Soldat Aydın, 29. Was hat sie aus der Geschichte gelernt? "Frieden schenkt uns niemand", sagt sie. "Wir müssen ihn uns nehmen!"

Cemal Aydın findet keinen Frieden. In Schlangenlinien führt der Feldweg zum Grab seines Bruders Süleyman. Cemal Aydın ist Rentner, 68 Jahre alt. Als Kind war es kein Vergnügen, in Mertekli aufzuwachsen. Die Familie war arm. Sechs Kinder. Das Leben hatte harte Arbeit zu bieten. Cemal Aydın ist als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. In Gelsenkirchen wartete auch harte Arbeit auf ihn - unter Tage. Jetzt verbringt er die Sommer in seinem Heimatdorf. Fast jeden Tag holt sich der Krieg neue Opfer. Jedes Mal empfindet er Schmerz.

Für kurdische Identität war in der von Atatürk gegründeten Türkei kein Platz

Mertekli war ein ruhiges Dorf. Die Kämpfe der späten Siebziger zwischen Rechten und Linken kamen hier nicht an. Die Bauern hatten keine Zeit für Anarchie. Der Militärputsch von 1980? Nichts, was ihr Leben aus den Angeln gehoben hätte. Anfang der Achtziger hatten sie nicht einmal Strom. Süleyman Aydın wollte den Militärdienst schnell hinter sich bringen. Er wollte Handwerker werden. Nach dem Grundwehrdienst wurde er nach Eruh versetzt, ein Städtchen mit damals 4000 Einwohnern in der Provinz Siirt.

Die PKK ist zu dem Zeitpunkt schon eine gut aufgestellte Untergrundorganisation. Sie wartet darauf, losschlagen zu können. Einige Hundert Kämpfer trainieren in Syrien und im Nordirak. Die chaotischen Siebziger hat Abdullah Öcalan genutzt, unter den Wütenden Kämpfer zu rekrutieren. Wer sich "Apo" anschloss - so nannten sie ihn -, wollte mit Waffengewalt einen kurdischen Staat schaffen. Denn für kurdische Identität war in der von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten Türkei kein Platz. Die Sprache: verboten. Lieder und Bräuche: verboten. Kurdische Dörfer hießen jetzt anders. Die Kinder bald auch.

Anfangs belächelten die Bauern die PKK-Kämpfer nur

Öcalans "Arbeiterpartei Kurdistans" war die radikalste unter den kurdischen Bewegungen. Und Öcalan der entschlossenste unter den Anführern. Der Militärputsch von 1980 spielte ihm in die Hände. Danach blieben nur die Härtesten übrig. Ihre Anhänger zogen durch die Dörfer im Südosten und warben für den Kampf.

Aber die Bauern belächelten die Jungen anfangs nur. "Sie hörten uns nicht richtig zu", erinnerte sich einer der Kämpfer im Gespräch mit der Autorin Aliza Marcus. Sie hat vor einigen Jahren ein bemerkenswertes Buch über die PKK verfasst: Blood & Belief, Blut und Glaube. Darin lässt sie die Kader zu Wort kommen. Unter ihnen ist Sarı Baran, Vize-Kommandeur, einer der Planer des Anschlags in Eruh. "Es war nicht unser Ziel, viele Soldaten zu töten. Es ging darum, die Bevölkerung für unsere Sache zu gewinnen. Wir wollten zeigen, wozu wir in der Lage sind."

Lange bevor die PKK ihren Guerilla-Krieg startete, haftete ihr schon ein fruchterregendes Image an: "Die PKK braucht Blut." Die Berge bei Eruh boten Schutz beim Rückzug. "Wir waren uns sicher, dass der Staat nichts ahnte. Er fühlte sich stark", erinnert sich Baran. Drei Terror-Kommandos brachen auf, jedes zwischen 10 und 30 Mann stark.

Es ist früher Abend in Eruh, der 15. August 1984. Gegen 19.30 Uhr dringen 30 Kämpfer in die Stadt ein. Das Militär hat neben dem Marktplatz seinen Stützpunkt. Süleyman Aydın schiebt Wache. Eine Gruppe eröffnet sofort das Feuer. Süleyman Aydın wird getroffen. Ein zweites Team besetzt die Moschee. Über deren Lautsprecher verkündet die PKK ihre Botschaft: Dieser Angriff sei der Beginn des kurdischen Befreiungskrieges.

Aydıns Grab ist das einzige, an dem eine Türkeifahne weht. Der Friedhof trägt den Namen des Soldaten. Der erste Märtyrer dieses Krieges. Heute lernt man in jeder Nachrichtensendung neue Märtyrer kennen.

Die Zeit der Gespräche mit der PKK war frei von Terror

Es gab Jahre der Friedensverhandlungen. Das war die terrorfreie Zeit. Recep Tayyip Erdoğan schien erkannt zu haben, dass dieser Krieg mit Waffengewalt nicht zu lösen ist. Ende 2012 begann seine Regierung Gespräche mit der PKK. Öcalan, 1999 gefasst und seither im Gefängnis, war Verhandlungsführer aufseiten der PKK. Im Frühjahr 2015 gab es eine Art Friedensfahrplan. Neben der PKK war mit der prokurdischen HDP eine Partei entstanden, welche die Chance bot, den Konflikt im Parlament in Ankara zu lösen. Es kam anders.

Die selbstbewusste HDP machte Wahlkampf gegen Erdoğan. Dessen Partei AKP verlor bei der Wahl im Juni 2015 die absolute Mehrheit. Die HDP war Erdoğan zu stark geworden. Der Friedensprozess kam zum Erliegen. Die PKK sabotierte ihrerseits die Gespräche. Im Juli richtete sie zwei Polizisten hin, die sie für Komplizen eines IS-Anschlags auf Kurden in Suruç hielt.

Kein vergossener Tropfen Blut hat den Schmerz gelindert

Seit einem Jahr kämpft man wieder. Cemal Aydın erzählt, wie am Tag nach dem Anschlag 1984 die Nachricht von Süleymans Tod das Dorf erreichte. Alle hätten geweint. Er musste bei seinem Arbeitgeber in Gelsenkirchen betteln, um ein paar Tage freizubekommen. Es dauert dann noch vier, fünf Monate, bis die Familie erfuhr, dass Süleyman Opfer einer Terrororganisation namens PKK geworden war. "Banditen", hieß es anfangs.

Die Familie Aydın litt. Süleymans Vater hat den Verlust nicht überwunden. Er starb bald. Die Mutter zog weg. Cemal Aydın ging zurück nach Deutschland. Die Wut grub sich immer tiefer in die Herzen. Süleymans Schwester sagte fast zehn Jahre später in einem Interview: "Jeden Morgen bete ich vor seinem Grab, dass Gott Apo und seine Leute im Blut erstickt." Cemal Aydın hört man die heiße Wut nicht mehr an. Vielleicht liegt es daran, dass mittlerweile 32 Jahre vergangen sind und kein vergossener Tropfen Blut seinen Schmerz gelindert hätte.

"Wir hatten nicht genug Brot für unsere Kinder", sagt ein Mann in Diyarbakır

"Wir sind da. Wo ist Erdoğans Armee?" steht auf einem Rollladen in Sur, dem Altstadtviertel von Diyarbakır. Die PKK-nahe Kämpferjugend hat die Botschaft hinterlassen. Weiterkämpfen? Es ist schon alles kaputt. Sur ist Herz und Gedächtnis von Diyarbakır, 5000-jährige Geschichte. Drei Monate stand das Viertel unter Ausgangssperre.

Ein Rundgang durch die engen Gassen, ein Stopp bei den Handwerkern. Der Schmied bricht in Tränen aus. "Wir hatten nicht genug Brot für unsere Kinder", sagt er. Der Hochzeitsfotograf Ümit Görgün, hager, das Resthaar über die Glatze gekämmt, steht mit Sieben-Jahre-Trauer-Blick in seinem Geschäft. "Es ist schwer geworden, hier noch Glück zu finden, wenn man den Leichengeruch in der Nase hat." Das letzte Hochzeitspaar hatte er vor einem halben Jahr vor der Linse. Fotografiert hat er trotzdem. Eines seiner Stillleben zeigt Dutzende Patronenhülsen im Rinnstein. Als hätte es Munition geregnet.

Polizisten haben sich Sofas und Stühle aus den Wohnungen geholt und auf die Straße gestellt. Das sind ihre Wachposten. Einer prüft seine Frisur in der getönten Scheibe eines parkenden Autos. Die andere Hand hat er am Abzug seines Maschinengewehrs. Sur heute.

Die Generation der um die 30-Jährigen gilt als noch aggressiver

Ein Teehaus am Rande der verwundeten Stadt. Treffen mit einer Frau, die in diesen Konflikt hineingeboren ist. Sie ist 29 Jahre alt, Anhängerin der HDP. Ihre Familiengeschichte ist typisch für viele Kurden, die sich nach Frieden sehnen. Die Tante: kämpfte in der PKK. Die Eltern: vom Militär aus ihrem Dorf vertrieben. Sie: gefangen in einer Endlosschleife von Gewalt. Ihren Namen soll man nicht schreiben. Sie erzählt, wie sie als Kind im Westen der Türkei aufwuchs. "Ich fühlte mich nie dazugehörig. "In meinem Personalausweis steht, ich sei Türkin. So wie es dieser Staat will. Aber wenn ich im Westen des Landes kontrolliert werde und die Beamten sehen, dass ich im Südosten geboren wurde, fragen sie: Was willst du hier?"

Ihre Generation gilt als noch aggressiver, noch hemmungsloser als die Elterngeneration. Wo kommt all die Wut her? Die Frau sagt: "Wir machen jetzt durch, was schon unsere Eltern durchgemacht haben. Gewalt ist für uns zur Normalität geworden." Und die Eltern sagen nicht: Das hat keinen Sinn? "Nein!", erzählt die Frau. Sie könnten nicht verstehen, dass der Staat nicht begreife. "Wir wollten glauben, dass Erdoğan Frieden bringt", sagt sie. Gewalt hätte nichts gebracht. Schlimmer noch: "Reden hat auch nichts gebracht."

In Eruh will niemand über die Geschehnisse sprechen

Von Diyarbakır bis Eruh sind es fast vier Stunden mit dem Bus. Eruh ist eine Kleinstadt, aber davon spürt man nichts, wenn man auf dem verlassenen Marktplatz steht. Eruh wirkt wie ein Dorf. Vor dem Kiosk haben sich Dorfältere versammelt. Sie hocken auf Holzschemeln, tragen Pluderhosen und schwarz-weiß karierte Puşi-Tücher. Hier hat alles angefangen.

Zum Gedenken an Süleyman Aydın hat die Behörde auf dem Marktplatz einen Uhrenturm errichtet. Die Vergangenheit steht wie ein Mahnmal im Raum. Aber die Leute tun so, als würden sie sie nicht kennen. Fragt man die Jüngeren, sagen sie: "Sprich mit den Alten." Fragt man die Älteren, sagen sie: Sie könnten sich an jenen Abend des Jahres 1984 nicht erinnern. Nur der Metzger redet. Er geht mit der Geschichte um wie mit seinem Fleisch. "Tot ist tot", sagt er. Warum also zurückblicken? Die Männer auf dem Dorfplatz bedeuten einem, dass man besser wieder geht. Auch der Landrat, der hier sein Büro hat, mag nicht reden. Dafür bekommt man umgehend die Begleitung von fünf Polizisten. Fortan ist man keine Sekunde mehr allein unterwegs. Noch immer existiert der Militärstützpunkt. Aber heute kommt kein Soldat mehr unbekümmert zum Dienst. Gepanzerte Fahrzeuge fahren durch die Gassen, als sei Süleyman Aydın gestern erst gestorben.

Bis heute kann Eruh nicht trauern. Wenn man dort ist, spürt man keine Vergangenheit und keine Zukunft. Mitten im Dorf steht ausgerechnet der Uhrenturm. Die Zeit läuft. Sie hat nichts geheilt.

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