Türkei:Wirtschaft vor Wahrheit

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Eine türkische Polizistin vor einem Wandbild des ermordeten saudischen Regimekritikers Jamal Khashoggi in Istanbul. (Foto: Lefteris Pitarakis/AP)

Präsident Erdoğan ersucht in Riad um Finanzhilfen, im Gegenzug reicht die türkische Justiz den Mordfall Khashoggi an die saudische Staatsanwaltschaft weiter. Damit dürfte die Vorstellung, der Tod des Regimekritikers könne gesühnt werden, endgültig Geschichte sein.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Auch wenn die unerwartete Kehrtwende sein Markenzeichen ist: Die neue türkische Politik gegenüber Saudi-Arabien zeugt selbst für die Verhältnisse eines Recep Tayyip Erdoğan von unverfrorenem Pragmatismus. Hatte der türkische Staatschef den in Saudi-Arabien allmächtigen Thronfolger Mohammed bin Salman bisher quasi offiziell als für den Mord an dem saudischen Regimekritiker Jamal Khashoggi verantwortlich gehalten und bei jeder Gelegenheit die politische Konfrontation mit dem Saudi gesucht, wird Erdoğan den arabischen Machthaber nun bei einem Staatsbesuch um Hilfe für die angeschlagene türkische Wirtschaft bitten. Das Gegengeschäft ist bereits vollzogen: Der aufsehenerregende Mordfall des Regimekritikers Jamal Khashoggi wurde von der türkischen Justiz kurzerhand an die saudische Staatsanwaltschaft weitergereicht.

Khashoggi war im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul auf grausame Weise beseitigt worden. Der Journalist wurde bei einem Konsulatsbesuch von einem angereisten Hit-Team ermordet und offenbar zersägt, bevor die Leichenteile an einen unbekannten Ort geschafft oder im Konsulatsgarten verbrannt wurden: Khashoggi hatte vorgesprochen, um Unterlagen für die geplante Hochzeit mit einer türkischen Staatsbürgerin abzuholen.

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International war Prinz Salman nicht nur vom US-Geheimdienst für den Mord verantwortlich gemacht worden: Der Thronfolger gilt als unhinterfragter Herrscher des Wüstenstaats. Sein greiser, gesundheitlich angeschlagener Vater König Salman, der Erdoğan nun offiziell empfängt, tritt kaum in Erscheinung. Der Türke hatte von einem "barbarischen Mord" gesprochen und eine lückenlose Aufklärung durch die türkische Justiz angekündigt. Laut Erdoğan spielte dabei "die engste Umgebung des Kronprinzen die wichtigste Rolle" in dem Mordfall.

26 Angeklagte, darunter ein Ex-Berater des Prinzen und der ehemalige Vizegeheimdienstchef, wurden in Abwesenheit angeklagt. Aber im April legte die Türkei den Fall überraschend nieder und trat ihn an die angeblichen Auftraggeber des Mords ab: Ein Gericht überstellte das Verfahren an Saudi-Arabien.

Für Erdoğan geht es um mehr als das Schicksal eines saudischen Oppositionellen

Damit dürfte die Vorstellung, der Fall Khashoggi könne gesühnt werden, endgültig Geschichte geworden sein. Doch für Erdoğan geht es um mehr als um das Schicksal eines saudischen Oppositionellen. Seine hochfliegenden Pläne einer Führungsrolle im Nahen Osten, die sich auf die Unterstützung islamistischer Oppositionsgruppen wie der Muslimbrüder und der Hamas stützt, sind zumindest fürs Erste Makulatur geworden. Stattdessen kämpft der Präsident rund ein Jahr vor anstehenden Neuwahlen mit dem Niedergang der Wirtschaft, einer Inflation von rund 60 Prozent, dem Verfall der Landeswährung Lira und dem abbröckelnden Rückhalt in der Wahlbevölkerung.

Vor allem aus wirtschaftlichen Gründen muss der Dauerprovokateur die Aussöhnung mit seinen Erzfeinden suchen. Und das sind die erzkonservativen arabischen Machthaber am Golf; diese betrachten die islamistischen Oppositionsgruppen als gefährlichste Gegner. Vor allen anderen sehen sie in den im gesamten Nahen Osten aktiven und von Erdoğan lange gehätschelten Muslimbrüdern aus Ägypten den Feind: Die Organisation sei ein "Brutkasten für Terroristen", so Prinz Salman.

Schon bei der pragmatischen Aussöhnung mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) vor einigen Monaten hatte Erdoğan am Ende bekommen, was er wollte. Durch einen Währungsswap in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar kann die immer wieder ins Trudeln geratende türkische Lira bei Bedarf von Ankaras Zentralbank abgefangen werden. Eine ähnliche Stütze von Seiten der Saudis, versteckt in einem Paket wirtschaftlicher Zusammenarbeit und saudischer Investitionen, könnte Erdoğans fragwürdige Politik möglichst niedriger Leitzinsen und einer quasi forcierten Inflation am Leben erhalten.

Die Türkei- und Nahost-Expertin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin, Hürcan Asli Aksoy, brachte Erdoğans neue Politik gegenüber Riad so auf den Punkt: "Ankara handelt ganz klar interessenbasiert", sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. Differenzen wie der Fall Khashoggi oder Ideologie seien dabei längst nachrangig.

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