Türkei:"Riesenschritt auf dem Weg zum Rechtsstaat"

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Der türkische Justizminister hat sich für Folter entschuldigt - das hat noch nie ein Regierungsmitglied getan. Bürgerrechtler würdigen die Geste.

K. Strittmatter

Engin Ceber musste sterben, weil er auf der Straße eine linke Zeitschrift verteilt hatte. Zuerst verprügelten ihn die Polizisten auf der Wache des Istanbuler Vororts Istinye, später die Wärter des Metris-Gefängnisses. Ceber und zwei seiner Freunde hätten sich ausziehen müssen und seien in Wasser getaucht worden, berichtete der Anwalt der drei jungen Männer.

Überraschender Schritt: Der türkische Justizminister Mehmet Ali Sahin hat sich im Namen des Staates für Folter entschuldigt. (Foto: Foto: AP)

Die Beamten schlugen sie mit hölzernen Knüppeln und versetzten ihnen Tritte, auch auf die Genitalien. Tage lang. Dann lieferten sie Engin Ceber ins Krankenhaus ein, wo er am Freitag einer Gehirnblutung erlag. Ein weiteres Folteropfer in der Türkei. Ein weiterer Fall für Amnesty International. So weit, so schlecht.

Die eigentliche Überraschung kam fünf Tage nach dem Tod von Engin Ceber. Am Dienstag dieser Woche trat der Justizminister des Landes, Mehmet Ali Sahin, vor die Kameras, und tat etwas, was noch kein Regierungsmitglied jemals getan hatte: Er entschuldigte sich öffentlich und im Namen des Staates für die Folter und den Tod von Engin Ceber.

Traurige Realität

Er verkündete die Suspendierung von 19 Beamten vom Dienst. "Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, dass die Türkei sich einem solchen Fall gegenübersieht, werden ihre Strafe finden", sagte der Minister.

Die türkische Presse zollte am Mittwoch großen Beifall, wenn auch die Überraschung noch immer zu spüren war. "Der Staat hat sich entschuldigt", titelte die Zeitung Zaman fast ungläubig und sprach von einem "historischen Tag". "Die Mentalität ändert sich", freute sich Hürriyet.

Auch Bürgerrechtler zollten dem Minister Respekt: "Das ist ein Riesenschritt auf dem Weg zum Rechtsstaat in einem Land, in dem Verantwortliche für solche Dinge selten bestraft werden", meinte Kenan Alpay vom "Verein für Freiheit". Und Hüsnü Öndül, der Vorsitzende der Menschenrechtsvereinigung IHD in Ankara, sprach von einer "einmaligen Entschuldigung".

Eine Entschuldigung allerdings, die auf eine traurige Realität hinweist, die die Türkei noch immer in ihrem Griff hat: Auch mehrere Jahre, nachdem Premier Tayyip Erdogan seinen Bürgern und der EU eine "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter versprochen hatte, ist sie in türkischen Gefängnissen und Polizeiwachen noch Alltag.

IHD zufolge reichten im Jahr 2007 678 Bürger Beschwerde bei der Justiz ein wegen Misshandlung durch Beamte der Polizei oder Gendarmerie. Das sind zwar nur mehr halb so viele wie noch 2003.

Skeptische Bürgerrechtler

"Aber es zeigt, dass in der Türkei noch immer systematisch gefoltert wird", sagt IHD-Vorsitzender Hüsnü Öndül der Süddeutschen Zeitung: "Sie foltern, um Aussagen zu erzwingen, und sie foltern, weil sie denken, einer gehöre bestraft."

Was den Bürgerrechtlern besonders Sorgen macht: Während sich in den ersten Jahren der Erdogan-Regierung, die geprägt war von Reformenthusiasmus und EU-Annäherung, die Lage erstaunlich besserte, glauben sie vor allem seit 2006 - als die EU-Begeisterung der Türkei stark erlahmte - einen gegenteiligen Trend zu beobachten: "Die Folterer kehren zurück", schrieb die liberale Milliyet Anfang der Woche.

So gesehen kommt die Entschuldigung des Ministers zum richtigen Zeitpunkt. Doch Skepsis bleibt: "Wie ernst meint es die Regierung wirklich?", fragt IHD-Chef Öndül: "Bislang sind alle Folterer ungeschoren davon gekommen. Kein einziger Polizist sitzt wegen Folter im Gefängnis."

Was nicht nur ihn stutzig macht: Das für den Folterfall Engin Ceber zuständige Gericht hat strenge Geheimhaltung über die Untersuchungen verhängt, nicht einmal Cebers Anwalt erhält Akteneinsicht.

© SZ vom 16.10.2008/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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