Mitten im Gerichtssaal ist ein Treppenaufgang. Die Angeklagten kommen aus dem Nichts. Morgens, wenn die Justizmitarbeiter um 9.30 Uhr die Türen zum Gerichtssaal öffnen, sitzen sie einfach da. Die Angeklagten können den Saal betreten, ohne an all den Wütenden und an der Presse vorbei zu müssen. Aber am ersten Prozesstag mussten sie genau diesen Weg nehmen: vorbei an Menschen, die nach der Todesstrafe verlangten. Die "Verräter" brüllten. Sie mussten in einer Reihe marschieren, die Hände gefesselt. Untergehakt vom Sicherheitspersonal; mehr vorgeführt als ins Gericht begleitet. Die eigentliche Frage lautet: Geht es hier um Recht oder um Rache?
Am Abend des 15. Juli 2016 hatte eine Gruppe aus der Armee in der Türkei den Aufstand gewagt. Panzer waren auf den Straßen, Kampfjets flogen tief über Ankara und Istanbul. Knapp 300 Menschen kamen in dieser Nacht ums Leben. Seither ist es nicht wirklich Tag geworden.
221 Personen sind angeklagt, darunter viele Militärangehörige. Sie sollen den Putschversuch gesteuert haben. Sie hätten Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die islamisch-konservative Regierung stürzen wollen. Im Saal ist Platz für 1500 Leute. Tageslicht gibt es nicht. Neben dem Richter sind Großleinwände montiert, damit alle Journalisten etwas erkennen können. Das Gericht befindet sich auf dem Gelände der Sincan-Haftanstalt, eine halbe Autostunde von Ankara entfernt.
Akın Öztürk:Der General, der hinter dem Putschversuch stecken soll
Die türkische Regierung sieht den früheren Luftwaffenchef Akın Öztürk als Kopf der Verschwörung an. Viele Soldaten wussten gar nicht, dass sie zu einem Staatsstreich unterwegs waren.
Das Militär war einmal eine mächtige Institution. Es bestimmte mit, wer das Land regiert. Aber das war, bevor Erdoğan dieses Land eroberte. Jetzt stehen Generäle in Hemden, T-Shirts und Pullis vor dem Richter, nicht weniger kerzengerade deshalb. Ihre Uniformen habe man ihnen nach der Festnahme mit Gewalt vom Leib gerissen, erzählt eine Angehörige. "Von Rangniederen! Wir waren schockiert."
Als Erdoğan an die Macht kam, bediente er sich noch Gülens Netzwerks
Die Regierung vermutet, dass die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen hinter dem Putschversuch steckt. Als Erdoğan an die Macht kam, bediente er sich noch Gülens Netzwerks, das tief in den Staat hineinreichte. Doch das Männerbündnis zerbrach. Es kam zum Machtkampf. Gülen soll sein Netzwerk, das längst das Militär durchdrungen habe, am 15. Juli gegen Erdoğan gerichtet haben.
Die Gerichtskantine im ersten Stock. Es gibt Tee, Kaffee und frische Luft. Ein gedrungener Mann mit kurzem, grau meliertem Haar hat die Aktentasche neben sich abgestellt. Hicabi Durmuş verteidigt jenen Mann, der bei der Parade der Angeklagten vorn gehen musste: Ex-Luftwaffenchef Akın Öztürk. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für den Anführer des Putsches.
Der Vier-Sterne-General soll in jener Nacht versucht haben, den entführten Generalstabschef Hulusi Akar auf die Seite der Putschisten zu ziehen. Öztürk sagte vor Gericht: "Meine Nation, meine Kommandeure, die mich ausgebildet haben, sie alle sollen wissen, dass ich mit dem Putschversuch nichts zu tun habe." Sein Anwalt sagt, sie könnten widerlegen, dass Öztürk zu den Verschwörern gehöre. Für ihn ist Öztürk in ein Komplott geraten.
In der Nacht des Umsturzversuchs hatte Erdoğan von einem "Geschenk Gottes" gesprochen. Was er damit wohl meinte, wurde Stunden später sichtbar. Er hatte nun einen Grund, all jene, die er für Feinde hält, aus dem Staatsapparat und dem Militär zu entfernen. Dies wurde von manchen so ausgelegt, als sei der Putsch inszeniert gewesen, nur dafür da, dass Erdoğan sich mit brachialer Gewalt noch mehr Macht nehmen könne. "Der Putsch ist Realität", sagt Anwalt Hicabi Durmuş. Die Frage sei nur, wer hatte welchen Anteil daran?
Ob Gülen und sein Netzwerk beteiligt waren? "Wenn sie mich nach meiner persönlichen Meinung fragen, dann: ja", sagt er. Einige Militärs sprechen vor Gericht von einem "kontrollierten Putsch". Oberst Muzaffer Düzenli, der laut Anklage das Putschgeschehen in Istanbul gelenkt haben soll, sagt, er sei überzeugt, dass die Militärspitze und die Regierung im Bilde gewesen seien, was passieren würde. Tatsächlich hatten die Sicherheitsbehörden mindestens sechs Stunden vor Beginn Hinweise auf verdächtiges Verhalten in der Armee. "Sie wussten nicht, wer auf welcher Seite steht. Anstatt den Putsch zu stoppen, haben sie ihn zugelassen", sagt Düzenli.
Das Verfahren stützt kaum die Regierungslinie, wonach der Putsch ein Werk vor allem der Gülen-Bewegung sei. Fast alle Angeklagten bestritten eine Putschbeteiligung, überhaupt mit der Gülen-Bewegung zu tun gehabt zu haben. Sie hätten Befehle ausgeführt. Ihnen sei gesagt worden, das Land werde angegriffen. Von der PKK, glaubten die einen, vom sogenannten Islamischen Staat, sagten andere. "Ich glaube, dass viele Militärs angelogen wurden", sagt Anwalt Durmuş. Ob der Prozess Antworten bringen werde? "Ich glaube nicht, dass alles offengelegt wird."
Frau A. protokolliert mit. Jede Aussage. Sie macht Notizen in einem kleinen, schwarzen Buch. Frau A. sitzt hinten im Saal, dort, wo sich die Angehörigen der Angeklagten versammeln. Morgens, wenn sie ihre Partner zu sehen bekommen, winken sie einander zu. Frau A. ist um die 40. Sie will nicht mit ihrem Namen in der Zeitung erscheinen. Sie hat Kinder. Bei Freunden von ihr - der Mann ist ebenfalls angeklagt - sei die Tochter in der Schule an die Tafel geholt worden. Ihr Vater sei ein Landesverräter, habe der Lehrer dann gesagt.
Ein Anwalt raunt: "Wäre die Türkei in der EU, würde es diesen Prozess so nicht geben."
Frau A. sagt, in der Putschnacht habe sie kurz mit ihrem Mann telefoniert. "Wir versuchen selbst zu verstehen, was vor sich geht", habe er gesagt. Dann hörte sie tagelang nichts von ihm. Als sie ihn wiedersah, war sie geschockt. "Sein Gesicht war rot, er hatte Blutspuren am Hals und konnte kaum sprechen." Er soll in jener Nacht gepanzerte Fahrzeuge auf die Straße geschickt und befohlen haben, notfalls auch Zivilisten zu überfahren. So steht es in der Anklage.
Ihr Mann? Der, der sich von ihr mit den Worten verabschiedet hatte, dass die Räder der Kinder noch in Ordnung gebracht werden müssten? Sie denkt, ihr Mann sei in eine Falle geraten. Der Prozess? "Es geht nicht ums Aufdecken", sagt sie. "Es geht darum, den Anschein zu wahren: Diese Männer waren es." Die Tage können für sie zur Hölle werden. Wenn die Mütter getöteter Zivilisten brüllen, dass die Angeklagten Leid übers Land gebracht hätten. "In mir brennt der Schmerz! Auch du sollst leiden." Dann greift Richter Oğuz Dik ein und ruft "Seid still!".
Die Angeklagten kommen zu Wort, der Richter lässt sie manchmal stundenlang reden. Etliche berichten, dass sie misshandelt worden seien. Osman Kardal, der die Kontrolle der Operationszentrale im Generalstab übernommen haben soll, hat ein Attest, das ihm eine Verletzung unter dem Auge bescheinigt. "Es gab immer Gewalt, bis ich vor Gericht kam", sagt er. Der Staatsanwaltschaft wirft er vor, entlastendes Material unterschlagen zu haben. Ein General berichtet, er sei auf dem Polizeirevier verprügelt worden. Als er seine Aussage habe unterschreiben müssen, habe er seine Brille nicht bei sich gehabt. Die Angeklagten zeichnen das Bild einer Armee, die sich hat täuschen lassen. Die Anklageschrift zeichnet das Bild von kaltblütigen Putschisten.
Später, auf dem Flur, raunt ein Anwalt: "Wenn die Türkei in der EU wäre, würde es diesen Prozess so nicht geben." Ist er eine Farce? Ein Schauprozess? Das Verfahren müsste das Land aufwühlen. Aber an manchen Tagen sind nur sechs Journalisten da. Als hätten die Türken schon aufgehört, an den Prozess zu glauben.