Europäische Union:Ende der Illusionen

FILE PHOTO: Turkish President Erdogan talks during a news conference in Ankara

Provoziert aus Brüsseler Sicht weiter: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

(Foto: PRESIDENTIAL PRESS OFFICE/via REUTERS)

Beim EU-Gipfel müssen die Staats- und Regierungschefs auch über ihren weiteren Umgang mit der Türkei entscheiden. Erdoğan setzt darauf, dass die EU sich nicht auf Sanktionen einigen kann.

Von Tomas Avenarius, Istanbul, Daniel Brössler, Berlin, und Matthias Kolb, Brüssel

Mit den Erklärungen, die bei EU-Gipfeln beschlossen werden, ist es so eine Sache. Manchmal finden die Staats- und Regierungschefs so schwammige Phrasen, dass alles offenbleibt: Die Formulierungen zur Verknüpfung von EU-Haushalt und Rechtsstaatlichkeit vom Juli sind das aktuellste Beispiel. Anders war es Anfang Oktober. Die Botschaft an die Türkei war klar: "Im Falle erneuter einseitiger Maßnahmen oder Provokationen, die gegen das Völkerrecht verstoßen" werde die EU "alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und Optionen nutzen".

Und nach neun Stunden Verhandlungen setzten sich die Leaders, wie sie in Brüssel genannt werden, auch ein Limit: Man werde die Entwicklungen "aufmerksam verfolgen" und "geeignete Beschlüsse fassen, spätestens auf der Tagung im Dezember". Vor diesem Treffen, das am Donnerstag beginnt, berieten die Außenminister über die Situation. Sie habe sich "verschlechtert", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Alle EU-Mitglieder seien sich einig, dass die Türkei den nötigen Richtungswechsel nicht vollzogen habe.

Die Leaders stehen nun also vor einer Grundsatzentscheidung über jene Maßnahmen, die vor zwei Monaten vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vermeiden wollte: Sanktionen. Darauf drängten damals neben Zypern und Griechenland, die der Türkei vorwerfen, in ihren Hoheitsgebieten nach Rohstoffen zu suchen, vor allem Österreich und Frankreich. Merkel und EU-Ratspräsident Charles Michel gelang es, einen Aufschub auszuhandeln und Ankara eine "positive politische EU-Türkei-Agenda" anzubieten, an der man arbeiten wolle, wenn die Eskalationen enden. Für alle Welt sichtbar wurden in den Gipfel-Schlussfolgerungen etwa die "Modernisierung der Zollunion" sowie Handelserleichterungen in Aussicht gestellt.

"Es geht um unsere Glaubwürdigkeit", sagt ein EU-Diplomat

Dass Präsident Recep Tayyip Erdoğan weitermacht mit Provokationen, Beleidigungen und einseitigen Schritten wie der Aktivierung des russischen Raketenabwehrsystems S-400, wird in Brüssel als Beleg gewertet, dass er am Angebot nicht interessiert ist beziehungsweise der EU nicht zutraut, Härte zu zeigen. "Es geht um unsere Glaubwürdigkeit", sagt ein EU-Diplomat und verweist auf die neue US-Regierung. Ob Maßnahmen getroffen würden, sei fast schon entschieden, heißt es: Es gehe nur darum, welche. Als Bremser wird neben Italien und Spanien vor allem Deutschland genannt. In Berlin wird geduldig betont, dass die Türkei der Nato angehöre, Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe und in Migrationsfragen mit der EU kooperiere. Skeptiker betonen, dass Erdoğan Ende Februar die Grenzen für Flüchtlinge öffnen ließ, was wegen Corona in Vergessenheit geraten ist.

Auch wegen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft fällt Merkel eine Schlüsselrolle zu. Schon im Sommer hatte sie am Telefon auf Erdoğan und den griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis eingeredet, um die Eskalation in der Ägäis zu stoppen. Einerseits schlüpfte sie also in die Rolle der Vermittlerin, andererseits ist sie zur Solidarität mit Griechenland und Zypern verpflichtet. Das macht die Position der Bundesregierung so kompliziert.

Das bekam auch Außenminister Heiko Maas (SPD) zu spüren, der im Oktober in die Region reiste. Eigentlich wollte er nach Nikosia und Athen auch Ankara besuchen, doch kurz zuvor schickte die Türkei wieder einmal das Forschungsschiff Oruç Reis los - begleitet von zwei Kriegsschiffen. "Völlig unnötig und provozierend" nannte Maas das in Athen. Er verstehe den "tiefen Frust" über die einseitigen Schritte der Türkei - und sagte den Flug nach Ankara ab.

Ein Nato-Mitglied mit einem Waffenembargo zu belegen, gilt als aussichtslos

Bei Zyprern und Griechen wuchs daraufhin die Überzeugung, dass Berlin sich nun keinen Illusionen über Erdoğan mehr hingeben und den Weg frei machen werde für Sanktionen. Dass Merkel skeptisch blieb, führte auch in Paris zu Enttäuschung. Präsident Emmanuel Macron ist für eine harte Haltung gegenüber Erdoğan, dessen Agieren er nicht nur im Mittelmeer für inakzeptabel hält, sondern auch in Syrien oder Libyen. Hinzu kam Erdoğans Aufruf zum Boykott französischer Waren wegen der Reaktion Macrons auf die Enthauptung eines französischen Lehrers durch einen Islamisten. Von Merkel wünscht sich Macron, dass sie ihre vorsichtige Linie gegenüber Ankara aufgibt. Die Erwartung gibt es auch in Berlin. Der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Bijan Djir-Sarai, fordert neben dem sofortigen Ende der EU-Beitrittsgespräche personenbezogene Sanktionen sowie den Stopp aller Rüstungsexporte in die Türkei.

Ein Nato-Mitglied mit einem Waffenembargo zu belegen, wie es Griechenland verlangt, gilt als aussichtslos. Als realistisch gilt, was Manfred Weber, der Fraktionschef der Christdemokraten im EU-Parlament, skizziert: Auf Basis des wegen der Gasbohrungen vor Zypern bestehenden Regimes könnten weitere Personen mit Kontensperrungen und Einreiseverboten belegt werden. "Zudem soll der Außenbeauftragte Borrell schriftlich beauftragt werden, mögliche Sanktionen für den Banken- oder Energiesektor der Türkei vorzubereiten", fordert der CSU-Politiker.

Über den ersten Entwurf der neuen Gipfel-Erklärungen zum Thema wurde am Mittwoch beraten, an einer weiteren Fassung wird gearbeitet. Dass über den Umgang mit der Türkei am Donnerstagabend beraten wird, unterstreicht die Brisanz: Lösungen für die heikelsten Themen werden stets bei einem Arbeitsessen gesucht. Am Mittwochabend wurde zudem bekannt, dass mehr als 50 deutsche und griechische Europaparlamentarier und Europaparlamentarierinnen von Bundeskanzlerin Angela Merkel fordern, den Export von U-Booten an die Türkei zu stoppen. Die fraglichen U-Boote, Komponenten und Ersatzteile werden größtenteils von der deutschen "Thyssen Krupp Marine Systems" hergestellt und in der Türkei montiert. Der gemeinsame Brief der 53 Abgeordneten wurde dank einer Initiative der deutschen Grünen-Europaabgeordneten Hannah Neumann und der griechischen EVP-Europaabgeordneten Maria Spyraki verfasst. Die EU-Abgeordneten von CDU und CSU unterschrieben nicht.

Und Erdoğan? Der fordert im Streit um die Rohstoffe im östlichen Mittelmeer, "der Diplomatie eine Chance zu geben" und alle Akteure an einem Tisch zu versammeln. Der EU wirft er "strategische Blindheit" vor: Sie lasse sich von Zypern und Griechenland in der Zypernfrage und im Streit um die Seegebiete "instrumentalisieren". Völkerrechtlich mögen manche Ansprüche der Türkei berechtigt sein, aber sicher nicht alle. Ankara ist zudem weiter nicht bereit, vor internationale Gerichte zu ziehen und hält an seiner Drohpolitik fest. Dass die Oruç Reis Ende November zurückgezogen wurde, muss nichts heißen: Das Forschungsschiff war schon früher in seinen Heimathafen zurückgefahren, um später erneut in umstrittenen Seegebieten aufzutauchen. "Zu wenig, zu spät", lautete ein häufiger Kommentar von EU-Diplomaten.

Eine weitere Belastung ist die Zypernpolitik. Ankara hat sich jüngst von den von den Vereinten Nationen geforderten Ansätzen für eine Wiedervereinigung der seit 1974 geteilten Insel verabschiedet und tritt nun für eine "Zwei-Staaten-Lösung" ein.

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November 22, 2020, Krakow, Poland: An old woman holding the European Union flag during the demonstration..People protes

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