Süddeutsche Zeitung

Türkei:Raketen-Deal mit bitteren Konsequenzen

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Stellt die Türkei das russische Luftabwehrsystem "S-400" scharf, drohen ihr Sanktionen der USA. Doch das kann sich das Land angesichts der angeschlagenen Wirtschaftslage nicht leisten.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

IstanbulManchmal hat eine Pandemie ihre nützlichen Seiten. Der türkische Präsidentensprecher Ibrahim Kalin bediente sich jüngst der Corona-Krankheit, um Zeit zu gewinnen in einer Frage, die mit der Volksgesundheit nicht viel zu tun hat, in der die Zeit inzwischen aber mehr als drängt: Was macht die Türkei nun mit dem russischen Luftabwehrsystem S-400 , das sie gegen den Willen Washingtons und der anderen Nato-Staaten angeschafft hat? Wird die mobile Luftabwehr, mit der sich Kampfjets und Raketen abschießen lassen und die als die derzeit beste ihrer Art gepriesen wird, nun wirklich in Dienst genommen und scharf gestellt? Oder bleiben die inzwischen ausgelieferten Batterien weiterhin ungenutzt auf ihren Transportfahrzeugen stehen? "Wegen Corona gab es eine Verzögerung", sagte Kalin, "aber wir gehen vor wie geplant."

Die Türkei scheint das 2017 in Moskau bestellte Waffensystem also weiterhin wirklich in Betrieb nehmen zu wollen. Und das, obwohl Washington Sturm läuft und bereits sehr harte Maßnahmen verhängt hat: Der hochmoderne US- Kampfjet F-35 wird nun nicht, wie ursprünglich geplant, weiter an die Türkei ausgeliefert. Auch die Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Produktion der F-35 wurde gestrichen. Die USA fürchten, dass die Russen sich mit Hilfe der hochcomputerisierten S-400 Kenntnisse über die Jets aneignen könnten, falls diese in Zukunft für die türkische Luftwaffe fliegen und damit auch mit der türkischen Luftabwehr elektronisch kommunizieren würden: Das neueste US-Kampfflugzeug würde leichter angreifbar für den wichtigsten Gegner der Nato.

David Satterfield, Washingtons Botschafter in Ankara, drohte Staatschef Recep Tayyip Erdoğan daher nun noch einmal unverhohlen in Sachen S-400: "Die Wahrscheinlichkeit von Sanktionen ist groß." David Satterfield stellte mit diesen nicht wirklich diplomatischen Worten klar, dass die USA die Geduld mit der Türkei verlieren könnten, wenn es um die russischen Raketen geht. "Wir haben gegenüber Präsident Erdoğan und der gesamten türkischen Führung unsere Haltung klargemacht", sagte der Botschafter. "Wenn das S-400-System scharf gemacht wird, drohen Sanktionen des Kongresses."

US-Sanktionen sind das, was die Türkei angesichts ihrer angeschlagenen Wirtschaftslage am wenigsten brauchen kann. Im Gegenteil, eigentlich bräuchte das Land angesichts der sich abzeichnenden Verschlechterung der Wirtschaftslage internationale Finanzhilfe. Und das nicht nur wegen der Corona-Krise. Die lange erfolgreich wachsende türkische Ökonomie ist schon vor der Pandemie abgefallen. Aber jetzt wird alles nur noch schlimmer, die türkische Währung Lira verfällt rasend schnell, die Währungsreserven des Landes schmelzen ab. Mit dem IWF will der Präsident aber um keinen Preis über ein Hilfspaket verhandeln, aus Prinzip. Besserung ist also vorerst nicht in Sicht, im Gegenteil. Und der Dauerstreit um die S-400 macht alles noch schwieriger. Als Staatschef eines wichtigen Nato-Landes hat sich Erdoğan ohnehin immer häufiger in Gegensatz zu den USA, zur EU und zum Bündnis gebracht: Unter anderem in der Syrienpolitik, im Libyenkrieg oder im Streit um die Ausbeutung riesiger Erdgasvorkommen im Mittelmeer.

Und immer öfter hat er auch im Militärbereich damit geliebäugelt, mit Russland zusammenzuarbeiten - die S-400 ist Symbol dieser Schaukelpolitik zwischen West und Ost. Doch was die Position Erdoğans zu Beginn stärkte, scheint sie nun zu schwächen: Inzwischen wirkt es, als ob die Türkei immer neue Gründe bis hin zur Corona-Krise suchen muss, um die S-400-Luftabwehr nicht in Dienst zu nehmen: Ankara liefe Gefahr, sich innerhalb der Nato völlig zu isolieren.

Ein Ausscheiden aus dem Bündnis kann derzeit aber auch keine Alternative sein: Die Türkei hat eine der größten Nato-Armeen, sie ist westlich bewaffnet. Zudem ist das Land in drei Kriege verwickelt: Türkische Soldaten stehen im Norden Syriens in Idlib, wo sie auf der Seite der letzten Aufständischen stehen. Und sie sind in den syrischen Kurdengebieten, wo sie gegen die von den USA unterstützten YPG-Kurden und gegen Syriens Staatschef Baschar al-Assad stehen. Auch im Nordirak sind türkische Soldaten gegen Kurden im Einsatz.

In Libyen unterstützt Erdoğan die von der UN gestützte Regierung von Fayiz as-Sarraj im Kampf gegen den selbsternannten Feldmarschall Chalifa Haftar. Obwohl hier mehr mit Söldnern als mit eigenen Truppen gekämpft wird, ist die Türkei auch in den libyschen Bürgerkrieg verwickelt. Auch aus innenpolitischen Gründen muss Erdoğan eine Lösung finden für die S-400. Ein Opppositionsabgeordneter fragte jüngst: "Sollen diese Waffen, welche die türkische Nation zweieinhalb Milliarden Dollar gekostet haben, in den Depots verrotten?"

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SZ vom 02.05.2020
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