Was sich Devlet Bahçelis Eltern dabei dachten, als sie ihrem Sohn den Vornamen „Staat“ gaben, ist nicht überliefert. Was sich heute, 77 Jahre später, sagen lässt, ist, dass der Name ganz gut passt. Bahçeli, Vorsitzender der ultranationalistischen MHP, ist als Partner des Präsidenten ein Mann des Systems. Recep Tayyip Erdoğan regiert mit ihm zusammen die Türkei, weil dessen eigene Partei, die AKP, allein schon lange keine Mehrheit mehr hat. Bahçeli übt zwar selbst kein Regierungsamt aus, aber in der „Volksallianz“, wie das Bündnis heißt, dürfte er an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt sein.
So jedenfalls vermutet man im Land, genau weiß es kaum jemand. Devlet Bahçeli ist verschwiegen, seine Partei redet selten mit Journalisten. Was sich über ihn sagen lässt: Er, der lebenslange Nationalist, war es, der im Herbst den Friedensprozess mit der kurdischen Untergrundorganisation PKK anstieß. Das geschah, bevor er für etwa zwei Monate aus der Öffentlichkeit verschwand. Erst vor ein paar Wochen tauchte er wieder auf, so bleich, als wäre er in der Klinik nur knapp dem Tod entkommen.
Bereitet sich da jemand auf einen Seitenwechsel vor?
Und dann war da Mitte April diese Botschaft. Versteckt in einem längeren Text, aber deutlich genug: Bahçeli, der Freund des Staatspräsidenten, forderte „ein schnelles Verfahren“ für Ekrem İmamoğlu, Istanbuls abgesetzten Bürgermeister. Es müsse zügig festgestellt werden, ob Erdoğans inhaftierter Herausforderer schuldig sei – wenn es „klare Beweise“ gebe. Oder eben unschuldig, dann müsse er freigesprochen werden.
Es hörte sich an, als wäre die Möglichkeit eines Freispruchs eine reale. Niemand aus Erdoğans AKP würde sich so äußern, dort weiß jeder, was der Präsident möchte: einen Schuldspruch gegen İmamoğlu, auf der Grundlage welcher Beweise auch immer.
Kann es sein, fragen sich seither viele im Land, dass sich da jemand auf einen Seitenwechsel vorbereitet? Sieht Devlet Bahçeli in seinem Bündnis mit Erdoğan keine Zukunft mehr? Ganz abwegig wäre das nicht, immerhin war seine MHP bis 2016 in der Opposition. Seither allerdings hat er von der Gunst des Präsidenten profitiert, er war an der Macht, ohne selbst regieren zu müssen. Was also bedeutet Bahçelis Vorstoß?
Einen Monat nach İmamoğlus Festnahme ist die Türkei erfüllt von Gerüchten darüber, wie es weitergeht. Die Proteste dauern an, klar ist aber auch, dass sie allein nicht reichen werden, damit sich etwas ändert – damit İmamoğlu freikommt oder Recep Tayyip Erdoğan gar von der Macht lässt. Es wird darauf ankommen, wie die Proteste die Politik beeinflussen, das Schachspiel der Macht, das Erdoğan beherrscht, als wäre es seine zweite Muttersprache.

Türkei:Hunderttausende Menschen protestieren in Istanbul - schwedischer Journalist verhaftet
Die Proteste gegen die Inhaftierung von Istanbuls Ex-Bürgermeister Ekrem İmamoğlu gehen weiter – auch die Festnahmen von Kritikern und Journalisten. Nun trifft es einen schwedischen Reporter.
Zwei Ex-Feinde entscheiden nun vielleicht gemeinsam über die Zukunft der Türkei
Irgendwann wird es Neuwahlen geben. Zu einer regulären Wahl könnte Erdoğan gar nicht ein weiteres Mal antreten, so will es die Verfassung. Nur wann soll gewählt werden? Die Opposition hat schon mehr als zehn Millionen Unterschriften für eine Wahl noch in diesem Jahr gesammelt und sammelt weiter. Mit dem Momentum würde sie gern in den Wahlkampf gehen. Präsident Erdoğan dagegen möchte wohl lieber erst 2027 wählen lassen, hoffend, dass die Aufregung um İmamoğlu dann vergessen ist.
Offensichtlich will Erdoğan die Opposition spalten. Kürzlich empfing er die Spitze der prokurdischen DEM-Partei in seinem Palast, das gab es noch nie. Die Kurden spielen eine undurchschaubare Rolle – einerseits sympathisieren sie mit İmamoğlu, andererseits fremdeln sie auch mit dessen Partei, der CHP. Bei den Protesten drängeln sie sich nicht nach vorn. Sie wissen, wer ihnen den Frieden schenken kann: der amtierende Präsident.
Mit den Stimmen der DEM kann Erdoğan im Parlament eine Neuwahl dann herbeiführen, wenn er sie will. Dafür benötigt er 60 Prozent der Abgeordneten. Die bräuchte aber auch die CHP für ihre früheren Neuwahlen; ohne die DEM und einige Stimmen aus dem Regierungslager kann sie die vergessen.
DEM und MHP, das waren, bis Bahçeli auf die Kurden zuging, nicht nur politische Gegner, sie waren verfeindet. Nun entscheiden die Ex-Feinde vielleicht gemeinsam über die Zukunft der Türkei. Denn wenn Erdoğan nur noch seine AKP bleibt, also seine geschrumpfte, fromm-konservative Basis, seine Stammwählerschaft, dann wird es für ihn schwer.
İmamoğlu twitterte aus seiner Zelle heraus schon einen Aufruf an Bahçeli
Einer, der Bahçeli seit Jahrzehnten kennt, ist der Journalist Mümtazer Türköne. Er sagt am Telefon gleich den Satz, der in der Türkei immer stimmt: „Alles ist möglich.“ Er habe aber, sagt Türköne, eine Ahnung, was wahrscheinlich passieren werde: Neuwahlen, baldige, und dies wegen Bahçeli.
Türköne war früher ein politischer Weggefährte des MHP-Chefs. Heute habe er mit dem alten Bekannten nichts mehr gemein, sagt er, aber auffällig sei, dass sich Bahçeli in letzter Zeit wie „ein Staatsmann“ benehme. „Er will die Kurdenfrage lösen“, sagt Türköne. „Das soll sein Vermächtnis werden.“ Deswegen wolle er nicht, dass das Verfahren gegen İmamoğlu den Friedensprozess störe.
Bahçeli habe verstanden, dass es in einem autoritären Staat keinen echten Frieden geben werde. „In der DEM-Führung sind erfahrene Leute, die wissen, dass sie Erdoğan nicht trauen können.“ Also, sagt Türköne, könnte Bahçeli versucht sein, neue Freunde zu finden: bei İmamoğlus CHP. İmamoğlu twitterte aus seiner Zelle heraus schon einen Aufruf an Bahçeli: Der solle sich, sinngemäß: seiner Verantwortung bewusst werden und das Land von Erdoğan befreien.
Wie es ausgehen wird? Hängt dann wohl doch mit dem Druck der Straße zusammen. Damit, wie viel davon im Innern des Machtapparats ankommt.

Türkei:Erdoğan-Rivale İmamoğlu als Bürgermeister suspendiert
Das teilt das türkische Innenministerium mit. Zuvor hatte ein türkisches Gericht Untersuchungshaft angeordnet. Dem Erdoğan-Rivalen wird Korruption und Unterstützung der PKK vorgeworfen. In mehreren türkischen Städten kommt es zu Protesten.
Der MHP-Chef setzt auf die reguläre Wahl 2028 – dann dürfte Erdoğan nicht mehr antreten
Hüseyin Raşit Yılmaz forscht am Institute of Social Studies in Ankara; und er widerspricht der Theorie von Mümtazer Türköne, dass der Präsident seinen Partner verlieren könnte. Nicht Erdoğan sei von Devlet Bahçeli abhängig, es sei andersherum. Die MHP habe ihre früheren Wähler an andere Rechtsaußenparteien verloren, die auch die Proteste mittragen. „Der Staat ist in der Person von Erdoğan vereint“, sagt Yılmaz. „Kündigt Bahçeli das Bündnis mit ihm auf, ist er bedeutungslos.“
Eindeutig aber sei, meint Yılmaz, dass Erdoğans Beliebtheit deutlich abgenommen habe, deswegen suche der Präsident neue Wege – etwa mit den Kurden. „Er weiß, dass nicht geschieht, was das Volk nicht will. Das hat noch niemand geschafft, nicht einmal die Armee.“ Yılmaz spricht von einer „Urnenkultur“, also dem lagerübergreifenden Willen, dass die Wählerinnen und Wähler entscheiden, wer regiert.
Zwar glaubt er nicht daran, dass Bahçeli den Präsidenten stürzt. Aber er beschreibt ein Szenario, in dem der Druck auf Erdoğan zu hoch wird. Yılmaz hat die Protestbewegung untersucht, er beschreibt sie als „die jüngste in der Geschichte der Türkei“, fast drei Viertel der Protestierenden seien jünger als 24. Es sind Menschen, die enorm unter der Wirtschaftskrise leiden. „Wenn die Regierung ihre Haltung nicht ändert“, sagt Yılmaz, also der Jugend gegenüber, „dann ist das der Anfang von ihrem Ende.“
Dass es im Apparat erste Zweifel am Präsidenten gibt, fällt selbst am Kiosk auf. Auf den Titelseiten der regierungstreuen Zeitungen fehlte Bahçelis Aussage zu İmamoğlu, vermutlich, weil sie Erdoğans Linie widersprach. Vergangene Woche dann ließ Bahçeli einen weiteren Satz fallen, auf den ersten Blick eine Absage an die Opposition: Die Wahlen, sagte er, würden „pünktlich“ stattfinden, also 2028. In dem Jahr endet regulär Erdoğans Amtszeit.
Sollte es so kommen, dürfte Erdoğan nicht mehr antreten.