Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğans Palast-Syndrom

Der türkische Präsident hat viel für sein Land getan. Doch jetzt verliert er die Bodenhaftung, wütet gegen Kritiker und ruiniert so sein eigenes Werk.

Kommentar von Luisa Seeling

Ja, es ist anmaßend, dass die Regierung in Ankara fordert, die Ausstrahlung eines vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Satire-Liedchens zu unterbinden; und es ist beunruhigend, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ausländische Botschafter anpöbelt, weil sie einen Prozess beobachten.

Aber die Staatsaffäre der vergangenen Tage hat auch etwas Absurdes. Erdoğan erreicht das Gegenteil dessen, was er will. Das Spottlied ist zum Hit geworden. Im Internet lachen sie über den "Boss vom Bosporus", der in seiner Selbstüberschätzung glaubt, auch die deutsche Presse gängeln zu können.

Noch nie ist es so leicht gewesen, Erdoğan für eine Inkarnation des Bösen zu halten oder für eine gefährliche, in ihrem Machthunger aber auch komische Figur. Die Wut-Masche des Präsidenten, über Jahre perfektioniert, stößt an ihre Grenzen. Früher war Erdoğans Zorn eine produktive Kraft, der Motor seiner politischen Karriere. Der Junge aus dem Istanbuler Kleine-Leute-Viertel Kasımpaşa, der Sesamkringel verkaufte, um die Familie zu ernähren, wollte es den säkularen, urbanen Eliten zeigen. Diese "weißen Türken" waren über Jahrzehnte an der Macht; die "schwarzen Türken", die einfache, fromme Bevölkerung hatte wenig zu sagen. Sie wurde von der prowestlichen Herrscherklasse als rückständig abgestempelt, obwohl sie in der Mehrheit war.

Das neue Selbstbewusstsein der Konservativen

Das änderte sich, als 2002 Erdoğans Partei AKP an die Macht kam. Die konservativ-islamische Partei wertete die marginalisierten Schichten auf, verlieh ihnen Stimme und Selbstbewusstsein. Und niemand spielte so virtuos auf der Klaviatur des Populismus wie der Premier: Erdoğans Aufsteiger-Wut, sein Freund-Feind-Denken waren sein wichtigstes Machtinstrument.

"Wir gegen die" ist ein Narrativ, das in einem polarisierten Land bestens funktioniert. Auch im Ausland lernte Erdoğan, mit Blick auf Wählerstimmen zu provozieren. Man konnte das 2009 beobachten, als er vom Weltwirtschaftsforum zurückkam und wie ein Rockstar empfangen wurde.

Wutschnaubend hatte Erdoğan eine Podiumsdiskussion verlassen, weil er sich über den israelischen Präsidenten geärgert hatte. Als "Held von Davos" landete er am Flughafen, Tausende Anhänger jubelten ihm zu. In der Türkei inszenierte sich Erdoğan als Verteidiger der frommen Mittelschicht (aus der längst eine neue Elite hervorgegangen ist) gegen die alten Eliten; in der Welt verteidigte er den Anspruch seiner Nation auf Größe.

Erdoğans Strahlkraft beruhte aber nicht nur auf Populismus, sondern auch auf Erfolgen. Er hat das Land verwandelt wie kein Politiker seit dem Republiksgründer Atatürk - in den Anfangsjahren durchaus zum Besseren. Die Regierung reformierte das Strafrecht und stärkte die Rechte von Minderheiten. Die EU belohnte solche Schritte 2005 mit der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen.

Erdoğan trieb die wirtschaftliche Öffnung voran, erschloss neue Märkte. In jenen Jahren schlossen Millionen Menschen zur neuen Mittelschicht auf. Fährt man heute durch die Außenbezirke Ankaras oder Istanbuls, stehen dort keine baufälligen Hütten mehr; es wachsen Wohntürme in den Himmel. Sie sind ein Symbol für den Wohlstandstraum, der sich unter der AKP für viele Türken erfüllt hat.

Erdoğan wird zum Getriebenen, der sein Land ruiniert

Populismus und Wachstum, so hieß einst Erdoğans Erfolgsformel. Doch sie wirkt nicht mehr gut. Die letzte Erfolgsgeschichte, der Friedensprozess mit den Kurden, endete vergangenen Sommer. Seitdem herrscht Krieg im Südosten. Der Terror versetzt die Bürger in Angst. Er schadet der Wirtschaft, die Boomjahre sind vorbei.

Der EU-Beitrittsprozess liegt auf Eis; dank des Flüchtlingsabkommens soll es nun wieder vorangehen, doch niemand glaubt, dass die Türkei auf absehbare Zeit in die EU gelangt. Die AKP, einst als Saubermann-Partei angetreten, konnte vor zwei Jahren nur mit Mühe einen Korruptionsskandal unter den Tisch kehren, der nun wieder hervorkommen könnte. Außenpolitisch ist das Land umringt von Feinden und Konflikten.

Erdoğan war nie ein lupenreiner Demokrat, sondern ein Pragmatiker, den die Gewaltenteilung schon lange nervt. Inzwischen wirkt er wie ein Getriebener. Wo sein Populismus nicht mehr zündet, muss Härte die Lücke füllen. Inzwischen kontrolliert er große Teile der Medien. Die Justiz ist durchsetzt mit willfährigen Richtern und Staatsanwälten. Fast 2000 Menschen sind in zwei Jahren wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt worden.

Nach 13 Jahren an der Macht kommen wohl noch andere Effekte hinzu: Paranoia, Größenwahn, das Fehlen eines Korrektivs, weil die innerparteiliche Konkurrenz kaltgestellt wurde. Wer in einem Palast mit mehr als 1100 Zimmern wohnt, kann schon die Bodenhaftung verlieren.

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SZ vom 01.04.2016/lkr
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